Reise nach Taizé

Die ganze Nacht waren wir auf der Autobahn durch den Regen gefahren. Ich lag zusammengekauert auf dem Rücksitz. Im Halbschlaf passierte ich die Grenze nach Frankreich. In der Morgendämmerung schlichen sich Hügel und Dörfer wie Träume in den Schlaf. Die kleinen Häuser im erdigen Gelb sahen so friedlich aus. Die Wolken hingen grau und schwer am Himmel. Es war für mich ein unvermittelter Abbruch der Fahrt, ein Herausreißen aus der Trance, als wir das Haus in Balland erreichten. Dorothea parkte den Wagen auf dem Vorplatz. Die Reifen knirschten im roten Sand. Klaus hatte die ganze Zeit auf dem Beifahrersitz gesessen. Er stieg aus und öffnete den Kofferraum. Wir trugen unsere Taschen die Steintreppe hoch. An der braun lackierten Holztür hingen schwarze Glocken an einer Schnur. Dorothea lief noch einmal hinunter und suchte den Schlüssel im alten Steinofen. Der Vater hatte ihn dort gut versteckt, aber nach einer Weile hatte sie ihn unter dem Stroh gefunden. Lächelnd lief sie in ihrem langen Wintermantel wieder die Treppen hoch und schloss die Tür auf. Unter dem Läuten der kleinen Kuhglocken schritt sie wie ein Engel voran. Ihr blondes Engelshaar hatte sie zum Zopf zusammengebunden. Die ersten Schritte in dieses Haus führten schon ins Wohnzimmer. Dorothea stand vor einem großen Kamin, hinter dessen Glasscheibe blaue Feuerflammen im Kreise züngelten. Man hörte das Zischen des Gases, das durch die kleinen Löcher strömte. Die Flammen tanzten wie wild auf und ab. Ring aus Feuer! In diesem Licht war Dorotheas Gesicht so hell und weiß und durchscheinend wie bei einer chinesischen Prinzessin. Es roch nach Erde und verbranntem Holz. Es roch nach Erinnerungen an alte Zeiten. Es roch nach einer Frau mit weißer Haube und Schürze, die einen Kuchen auf dem Tablett in den Raum trägt. Klaus setzte sich auf das grüne Sofa und streckte die Beine in Richtung des Kamins, um sich die Füße zu wärmen. Seine glatten, braunen Haare fielen auf ein einfaches Baumwollhemd. Seine großen Augäpfel lugten wie Austern unter den müden Lidern hervor. Dorothea zeigte mir den kleinen Nebenraum. Dort stand ein Bett mit einer großen, weißen Nackenrolle und ein Spiegelschrank mit Marmorplatte. Ich zog mich aus und legte mich ins Bett. Auf dem Schrank stand ein weißer Wasserkrug aus Porzellan.

Wir waren bis ans Ende der Nacht gefahren. Immer Richtung Lyon über Kassel und Frankfurt durch den Regen. In der Autobahnraststätte rieb sich Klaus die roten Augen. All die Eindrücke, die wir nicht festhalten können und all die Eindrücke, die wir nicht festhalten wollen. Ich sah noch die Lichter der Laster auf der Autobahn und ich hörte noch das Rattern der Motoren. Langsam fielen mir im blinden, weißen Licht dieser Morgendämmerung die Augen zu.

Die Erinnerung kam hoch und wurde wie eine Welle an Land gespült. Land der Gegenwart. Es war die Erinnerung an meine erste Begegnung mit Armin. Das Bild meiner Liebe schmuggelte sich in den lang ersehnten Schlaf. Die Erinnerung an sein Gesicht war wie ein Vorbote süßer Träume. Ich sah mich in Hamburg wieder über die Brücke gehen. Ein weißes Auto hielt neben mir. Der Fahrer war voll in die Bremsklötze gestiegen. Die Tür wurde weit aufgerissen. Ich hörte eine warme und weiche Männerstimme, die mich einlud, doch mit ihm zu fahren. Er würde mich doch immer hier sehen und nun wollte er mich das kurze Stück bis unter die Brücke mitnehmen. Ich dachte sofort an die vielen Frauenaufreißer und an gefährliche Zuhälter, die jede Lady im Auto abschleppen und die weit aufgerissene Tür erschien mir in diesem Moment doch ein wenig zu einladend. Außerdem konnte mich dieser Wildfremde ja sonst wohin mitnehmen. Dennoch gefiel mir seine Stimme. Sie klang so freundlich. Vielleicht doch einsteigen? Mal ganz spontan sein? Sich einfach mal vom Leben entführen lassen? Die Angst vor dem Unbekannten überwog und ich ging zum Wagen, um dem Fahrer zu sagen, dass ich dieses kleine Stück doch lieber zu Fuß gehen würde. Ich kam näher und dann sah ich sein Gesicht. Es war von grauen Locken umrahmt. Langes und volles Haar. Ich blickte in große, glänzende Augen. Es war ein tiefer, liebevoller, offener und ehrlicher Blick, der mich traf. Ich sah die klaren Linien in diesem Gesicht und volle, sinnliche Lippen, darüber ein ganz feiner, kleiner Bart. Während ich noch sprach, verliebte ich mich augenblicklich in dieses Gesicht und fand es äußerst vertrauenswürdig. Und da klappte auch schon die Tür zu und schon war er weg. Manchmal geht alles im Leben schnell, viel zu schnell. Die Chance war vertan. Ich war wütend auf mich selbst, weil ich auf meinen Kopf und nicht auf mein Herz gehört hatte. Ich war traurig, weil ich nicht spontan reagiert hatte und stieg die Seitentreppen der Brücke hinab. Auf den Stufen lag noch das alte Laub vom letzten Jahr.

Ich hörte es noch einmal unter meinen Füßen rascheln und versuchte, mich noch einmal an die Farbe seiner Augen zu erinnern, aber es gelang mir nicht. Ich tauchte in das Leuchten dieser großen, runden Augen wie in einen Bergsee und schon war ich eingeschlafen.

Nur wenige Stunden später war ich wieder aufgestanden. Das Tageslicht kitzelte die Augen wach. Zeitstrukturen schienen aufgehoben. Die Zeit fächerte sich auf wie in einem Kaleidoskop. Es duftete nach Kaffee. Dorothea brachte das Frühstück in den kleinen Nebenraum, der gleich neben meinem lag. Dort standen Vasen und Bücher auf einem Schrank und ein uraltes Radio. Klaus kam herein, beugte sich über das alte Gerät und drückte auf eine der vergilbten Tasten. Im nächsten Moment war ein Chanson von Jacques Brel zu hören. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, als er sagte: "Volltreffer! Ich mag diese Musik!" Die sanfte Stimme des Sängers schien uns in längst vergangene und ruhige Zeiten zu entführen. Diese Musik und der Blick aus dem Fenster machten die Beschaulichkeit dieses Ortes ganz deutlich. Der Regen strömte in Schnüren und der lehmige Boden saugte die Nässe auf. Die kleine Dorfstraße führte hier im Bogen am kleinen Fenster vorbei, aber es war kein Mensch zu sehen. Da standen die Kirschbäume in ihrer ersten Blüte. Ein kleiner Obstbaum deutete mit seinen Ästen ein Stillleben aus Japan an. Im leichten Wind und in meiner noch traumverlorenen Sicht erblickte ich darin die Bewegungen eines indischen Tänzers. Eine Kohlmeise hüpfte auf seine Krone und entschwand dann in Sekundenschnelle aus dem Fensterblick. Gegenüber stand ein Haus. Ein brauner Krug hockte auf der alten Steinmauer und fing den Regen auf. Ein weißer Krug stand erhöht auf dem Sims unter dem Treppengeländer und erinnerte schon an Spanien.

Dorothea studierte den Mondkalender. Klaus blickte sehnsuchtsvoll aus dem Fenster und schenkte sich Kaffee ein. Auf dem grünen Becher zeigte sich dem Rechtshänder ein Schweinchen und dem Linkshänder das rosa Hinterteil. Zwei Eierkerzen standen auf der schneeweißen Tischdecke mit der Blumenstickerei. Morgen war Gründonnerstag und da wollten wir nach Taizé fahren. Ich wusste nichts über diesen Ort. Ich wusste nur, dass es dort eine Klostergemeinschaft gab und ich wollte sie gern kennen lernen. Die alten Chansons lullten uns langsam ein. Auf einmal glühte die Sonne hell auf. Mein Blick fiel auf diesen kleinen, winzigen Weg hinauf zum Hügel, um dort hinter dunkelgrünen Tannengruppen und Laubbäumen die Grenzen dieses Ortes zu begreifen. Auf einen Schlag war der Himmel blau und die Wolken zogen über die alten Telefonmasten wie rasend hinweg. Grüne Grashalme flatterten silbrig schimmernd wie Gebetsfahnen aus Tibet im kalten Wind und zitterten. Hinter dem Gatter noch verbranntes Gras vom letzten Sommer. Klaus blätterte in seinem Pflanzenbuch. Ein zartes, getrocknetes Veilchen diente als Lesezeichen. Ich zog mein Buch über die legendäre Rockgruppe Led Zeppelin aus der Tasche. Ich schlug es auf. Da war ein großes Foto von dem Gitarristen Jimmy Page abgedruckt und es zeigte ihn, wie er noch ganz jung war. Man sah ihn dort mit seinen langen, dunklen Locken, die ganz weich wie ein zarter Vorhang über das rechte Auge fallen. Dieser verträumte Blick, der schon wissend und sehend die Musik widerspiegelt. Verhaltene, zärtliche Freude in den Augen und gleichzeitig die große Melancholie der Jugend, das Wissen um Tiefe und den Höhepunkt und das sich Verströmen und das Ende. In diesen Augen spiegelte sich die große Ahnung um das Leben und noch nicht die Summe der mühevollen Schritte von Erfahrung zu Erfahrung. In diesen Augen spiegelte sich die Liebe ohne Kalkulation. Auf diesem Bild war das Gesicht eines Mystikers zu sehen.

Der Blick aus dem Fenster zeigte immer noch ein Stillleben. Kein Mensch und kein Tier hatte die Straße betreten. Der Himmel war wieder grau, aber es regnete nicht mehr. Dorothea wollte mit uns hinausgehen. Wir zogen uns an und liefen die Treppe hinunter. Unten im Haus hatte es einmal einen Stall gegeben. Dorothea öffnete die Tür und zeigte uns den kleinen Raum. Jetzt standen hier die Gartengeräte und die Waschmaschine. Der steile Weg nach oben war ungewohnt für den Städter, diesen Hamburger Hafenmenschen, der nur die Ebene kennt. Auf den Weiden sahen wir die blassen Kälber mit großen Augen und langen Wimpern. Wir gingen an der Kirche vorbei. Ein einfacher, eckiger Turm mit einem kleinen Kirchenschiff. Solide und robust. Ein alter Bauer stapfte mit seinen Gummistiefeln über das Feld. Ein kurzes Nicken zum Gruße. Am Ende der Straße war ein kleiner Waldweg und auf der Weide sahen wir die Pferde unermüdlich grasen. Auf einmal begann es wieder zu regnen und zu hageln. Wir schoben uns die Jacken über den Kopf. Wir kamen am Friedhof vorbei. Trotz des Regens liefen wir dort hinein. Wir sahen Plastikblumen auf den Gräbern und schlichte Holzkreuze. Da war beinahe so eine kindliche Freude in uns, wieder das Gefühl zu erleben, bis auf die Knochen nass zu werden. Während die Regentropfen die Nase herunter liefen, rätselten wir, warum dieser Friedhof nicht bei der Kirche lag. Vielleicht waren die Toten hier noch unrein. Wir liefen im Eiltempo wieder zurück und waren bald völlig durchnässt. Vor dem Haus sah ich mich noch einmal um. Die Lichtschwelle am Horizont war erloschen.

Wir breiteten unsere nassen Jeans vor dem Kamin aus und wärmten uns am Feuer. Gegen Abend sahen wir uns einen Film an und tranken Wein. In dem Film starb eine Frau einsam und verletzt in einer dunklen Höhle. Ihre Rettung wurde durch die Bürokratie im Kriegsgewirr verhindert. Der Krieg riss die Liebenden auseinander. In diesem Film waren die Menschen wie fremde Kontinente, die sich begegnen. Die Reise durch das Leben: Wir dringen ineinander ein und reisen dann weiter. Das Tagebuch einer Liebenden, die Worte des Trostes für den Geliebten findet, bis die Kerze erlischt. Klaus hatte Tränen in den Augen und Dorothea streichelte seine Hand. Nach dem Film spürten wir wieder eine bleierne Müdigkeit. Wir hatten einfach zu wenig geschlafen.

Am nächsten Morgen erwachten wir früh. Gleich nach dem Frühstück wollten wir nach Taizé fahren. Dorothea erzählte von einem Schweigeseminar, dass sie dort mitgemacht hatte. Das Schweigen macht die Gedanken ganz bewusst. Schweigend hören wir besser. Im Schweigen erlangen die Worte ein neues Gewicht. Da wird einem klar, was wirklich gesagt werden muss. Und es kann schön sein, dieses gemeinsame Schweigen in völliger Andacht, weil man die Welt mit all dem Lärm und den Sorgen einmal loslassen darf. Nach innen hören, um Gott näher zu kommen. Aber das Zurückhalten der Gedanken ist auch schwer. Dorothea erzählte uns während des Frühstücks davon. Am Fenster war immer noch kein Mensch vorbeigegangen.

Ich musste wieder an Armin denken. Ich war in Hamburg nur um den Block gegangen. Da hatte ich ihn auf einmal am Fenster stehen sehen. Er hatte gerade ein Handy am Ohr und als er mich sah, rief er laut hinter mir her und winkte. Ich wäre beinahe zur Salzsäule erstarrt, als ich mich umdrehte und ihn dort vor dem offenen Fenster stehen sah. Ich winkte zurück und in diesem Moment war mir, als hätte ein Engel mein Herz berührt. Jetzt wusste ich, dass er beinahe nur einen Steinwurf von mir entfernt wohnte. Jetzt wusste ich, dass er nicht gelogen hatte, als er sagte, er würde mich immer auf der Brücke sehen. Tief in mir war eine große Freude, weil er sich von meiner Abfuhr nicht hatte abschrecken lassen und so freundlich winkte. Er schien mir ein offenes und kontaktfreudiges Wesen zu sein. Niemand, der seine Gefühle unterdrückt. Seine großen, staunenden Augen verblüfften mich und es war ein wunderbares Gefühl, nach so langer Zeit wieder verliebt zu sein. Das Fenster umrahmte diesen Lockenkopf mit der wundervollen Aura. Als ich ihn sah, da hörte ich einen Song in mir, die Textzeile eines schönen Liedes: "Every time you go away, you take a peace of me with you." Diese Melodie passte zu ihm. Es fiel mir schwer, mich von seinem Anblick zu lösen und weiter zu gehen, aber tief in mir erwuchs die Hoffnung. Ich kam wieder ins Träumen. Welche Farbe hatten nur seine Augen?

Bald verließen wir unser kleines Nest und fuhren mit dem Auto an dem kleinen Postamt vorbei und dem weinrot gestrichenen Bäckerladen mit der verschnörkelten Goldschrift. Bald kamen wir in einen größeren Ort und entdeckten ein gemütliches Café direkt an der Hauptstraße. Klöppelspitzengardinen hingen an goldenen Stangen vor dem Fenster. Daneben lag ein kleiner Esoterikladen. Wir stiegen aus dem Wagen und betrachteten das Schaufenster. Da war ein tanzender Shiva zu sehen. Er tanzte in einem Ring aus Feuer. Er tanzte auf dem Zwerg der Unwissenheit. Shiva ist der Gott der Wandlung. Die Inder kennen auch eine Trinität. Sie nennen sie Trimurti. Brahma entspricht Gott dem Vater. Er schläft. Er träumt diese Welt. Er ist ihr Schöpfer. Vishnu ist der Sohn. Er erhält diese Welt. In seiner Liebe wird die Welt nicht vergehen. Shiva entspricht dem Heiligen Geist. Zerstörung und Neubeginn. Der Beginn ist ein neuer Traum des Brahma. Das Leben ein Traum und ein ewiger Kreislauf. Aus dieser dreieinigen Gottheit emanieren all die anderen Gottheiten in ihren vielfältigen Formen. Im Urchristentum hat der eine Gott auch viele Namen. Wenn man die Weltreligionen einmal ganz genau unter die Lupe nimmt, dann entdeckt man nichts, was uns trennt. Im Kern lehren alle großen Weltreligionen den Respekt vor dem Leben und allumfassende Liebe.

Wir betraten den kleinen Laden und kauften wohlriechende Räucherstäbchen. Die Verkäuferin schenkte mir freundlich lächelnd ein Bild von Shiva. Da war er als schöner Jüngling mit blauem Gesicht abgebildet. Als wir hinausgingen, stieß mir Dorothea die Ellenbogen in die Rippen. Sie deutete ganz aufgeregt auf die andere Straßenseite. Da ging doch tatsächlich dieser Junge mit den langen, braunen Haaren an uns vorbei. Es gab gar keinen Zweifel. Das war er. Wir waren ihm auf unsere Hinfahrt kurz vor Lengede in einem Imbiss begegnet. Dorothea war auf ihn aufmerksam geworden und hatte uns zugeflüstert: "Seht ihr diesen Jungen? Sieht er nicht aus wie Jesus Christus, als er jung war? Was würdet ihr machen, wenn das jetzt wirklich Jesus wäre?" Der Junge hatte ganz feine Gesichtszüge und sanfte, braune Augen. Er wollte einen Döner bestellen und kramte in seinen Hosentaschen, weil ihm eine Mark fehlte. Ich sagte zu Dorothea: "Ich würde ihm zuerst die fehlende Mark schenken und dann würde ich ihm nachfolgen." Dorothea und Klaus lachten und dann hielten wir alle drei dem Jungen ein Markstück vor die Nase. Der Junge nahm das Geld von Dorothea und machte einen kleinen Diener und bedankte sich ganz höflich. Und jetzt war er auf einmal hier. Wir fühlten uns beinahe wie die Jünger auf dem Weg nach Emmaus. Klaus riss die Augen auf und sagte: "Wie kommt er nur nach Frankreich in dieses kleine Nest zur gleichen Stunde, Minute, Sekunde wie wir? Hat ihn die Enterprise zu uns heruntergebeamt?" Es gibt schon seltsame Momente im Leben. Als wolle uns das Schicksal einen Wink geben, um zu bestätigen, dass wir auf dem richtigen Weg sind.

Wir gingen in das kleine Café. Am Tresen stand eine ältere Dame mit blondierten Haaren und schenkte Likör ein. Sie trug eine Brille aus den fünfziger Jahren. Das Brillengestell macht einen Schwung nach oben wie bei den Federn einer Eule. Durchdringender Nachtaugenblick. Wieder fühlte man sich in die Vergangenheit versetzt. Hier war alles gemächlich und gemütlich. Zwei Männer saßen am Nachbartisch und tranken Schluck für Schluck ihren Rotwein. Im sanften Wortgeplauder erklangen alte Rockballaden aus dem Radio. Ein großer, schlanker Mann kam mit seinem Hund durch die Tür. Er trug lange Stiefel und hatte die langen, grauen Haare zum Zopf zusammengebunden. Er sah aus wie ein Jäger mit einem Hirtenhund. Er setzte sich an den Tisch zu den beiden anderen. Das Wortgeplauder wurde lauter. Es war schön, fremde Menschen einfach nur zu beobachten. Die Wirtin brachte uns den Kaffee in der Trinkschale. Dorothea meinte, der Hund sähe aus wie ein Wischmob. Der Hund hatte es gehört und legte seine Pfote auf meine Arme. Wir blieben noch eine kleine Weile. Am Fenster spazierten junge Leute vorbei. Aber dann packte Klaus die Neugier. Er wollte etwas über Taizé wissen und endlich aufbrechen.

Wir fuhren weiter durch die sanften Hügel und kamen dann auf die Schnellstraße. Die Zeit verging wie im Fluge. Dorothea schaltete das Autoradio ein und da waren auf einmal die Doors zu hören. Mein Herz machte einen kleinen Hüpfer. Sie spielten "Break On Through". Mit diesem Lied war für mich auch ein magischer Moment verbunden. Das Leben hält manchmal ganz verschachtelt Momente des Glücks für uns bereit. In der Erinnerung werden die Bilder deutlich und beginnen zu leuchten. Das Glück finden wir oft im Kleinen. Ich hatte in Hamburg über die Doors geschrieben, weil mir ihre Musik so gut gefiel. Außerdem konnte ein guter, alter Freund diesen Text gebrauchen, denn er hatte im Internet eine Musikzeitschrift. Die Musik stand schon immer im Mittelpunkt meines Interesses. Die Musik kann mich wirklich begeistern. Ich schrieb über den Sänger Jim Morrison und tastete mich langsam in sein Leben. Ich las Biographien, hörte die Musik der Doors und sah mir ihre Filme auf Video an. Hinter der Fassade des Rocksängers Jim Morrison verbarg sich ein hochgebildeter, belesener Mann und ein Dichter. In seinen Texten fand ich noch nie gehörte Gleichnisse und Metaphern. Die Musik ging direkt in den Bauch und erfasste das Herz. Ich war drei Wochen lang in einem Doors-Rausch gewesen. Immer, wenn ich zu dieser Zeit das Haus verließ, um Einkäufe zu machen, kam mir das Alltagsleben auf der Straße so grau und verloren vor. An einem dieser Tage stand ich an der Kreuzung und wartete darauf, dass die Ampel grün wurde. Auf einmal hörte ich einen sinnlichen, tiefen Bass und einen Rhythmus, der immer näher kam, und dann die Klänge einer Orgel, bis ich die Melodie erkannte. Und dann hörte ich Jim Morrisons kraftvolle, warme Stimme, die über der Orgel schwebte: "You know the day destroys the night. Night divides the day. Tried to run. Tried to hide. Break on throuhg to the other side." Es war ein ganz satter Sound, der immer näher kam und die ganze Straße beschallte. Alle Passanten drehten die Köpfe in Richtung des Autos, aus dem die Musik kam. Ich war wie hypnotisiert. Ausgerechnet die Doors! Es grenzte schon an ein Wunder, denn sonst hört man ja immer nur Techno aus den Autos dröhnen. Als wollten sie mir hier auf der Straße ein Zeichen geben und ihre Sympathie bekunden. Für ein paar Minuten war das die Love Parade für mich ganz privat. Am liebsten hätte ich getanzt. Als das Auto dann an der Ampel hielt, traf mich beinahe der Schlag: Armin saß am Steuer und winkte!

Das Bild war mir noch gut im Gedächtnis und hob meine Stimmung. Ich ließ mich einfach von der Musik tragen. Ich dachte darüber nach, ob diese kleinen magischen Momente im Leben im Großen und Ganzen einen Sinn ergeben. Immer wieder grübelte ich darüber nach, ob es im Leben wirklich einen unsichtbaren, roten Faden gibt und kam zu keinem Ergebnis. Nur die Heiligen hatten die großen Visionen und konnten sich ganz sicher sein.

Am Himmel waren immer noch Wolken zu sehen, aber ab und zu kam die Sonne durch. Der Sonnenglanz schien die Landschaft vor uns immer mehr auszudehnen. Die Schnellstraße machte eine große Kurve und dahinter bog Dorothea plötzlich ab und führte die rote Ente wieder auf die Landstraße. Bald ging es nur noch steil bergauf und es dauerte nicht lange, bis wir Taizé erreichten. Dorothea parkte den Wagen auf einem großen Parkplatz. Hier standen schon viele Autos. Wir stiegen aus und Dorothea führte uns ein kleines Stück weiter zu den Zeltplätzen. Die Zelte standen in langen Reihen hintereinander. Ich sah auf einmal überall junge Leute. So langsam wurde mir klar, dass dieser Ort ein richtiger Wallfahrtsort war. Die Zelte waren hier eine einfache Übernachtungsmöglichkeit. Es gab keine andere. Wer hier länger bleiben wollte, musste sich mit einfachen Verhältnissen abfinden. Dorothea erklärte uns, dass dieser Ort wirklich ein Pilgerort für ganz junge Leute war. Viele kamen von weit her. Sie kamen aus allen Himmelsrichtungen und den verschiedensten Ländern. Dorothea führte uns zuerst in die kleine Kapelle, denn hier hatte alles angefangen.

In der Kapelle war es ganz dunkel. Nur eine einzige Kerze brannte auf dem kleinen, schlichten Altar. Ich fühlte mich dort geborgen. In Gedanken sprach ich ein Gebet. Klaus saß neben mir und ich spürte, dass auch er in ein stilles Gebet versunken war. Leider wurde die Stille ständig durchbrochen, weil immer wieder jemand die Tür öffnete und das Tageslicht räuberisch in das Dunkel einfiel. Nach einer Weile wurden uns die Störungen zu viel. Wir verließen die Kapelle und Dorothea führte uns durch die Dorfstraße. Es ging steil bergauf und die kleinen, uralten Häuser klebten windschief am Weg. Hinter einem der Fenster saßen ein Mann und eine Frau an einem einfachen Küchentisch. Der Mann hatte nur noch wenige Haare auf dem Kopf und trug nur ein einfaches Baumwollunterhemd. Er tauchte sein Hörnchen in den Kaffee. Dorothea tippte mit dem Zeigefinger auf meine Schulter und sagte: "Hier darf man nicht stehen bleiben und den Menschen in die Fenster gucken. Dieses Dorf ist so winzig klein und es kommen so viele Menschen hierher. Die Dorfbewohner fühlen sich durch neugierige Blicke belästigt. Es ist hier tatsächlich ein ungeschriebenes Gesetz, dass man möglichst das Dorf umgeht und die Dorfbewohner nicht anguckt. Am besten, wir gehen schnell hier durch und gucken nach unten, sonst fühlen die Leute sich hier wie im Zoo." Diese Sätze erstaunten mich wirklich. Daran hatte ich gar nicht gedacht. Blicke können die Seele verletzen. Blicke können gefährlich sein. Blicke können den Menschen durchbohren. Man sagt ja, Blicke können töten. Ich fühlte mich schuldig. Aber als Schreibende sammelt man die Augenblicke. Als schreibender Mensch muss man Eindrücke sammeln und speichern und neugierig sein. Daran hatte ich mich gewöhnt und nun sollte ich diesen Wesenszug, der meine Passion kennzeichnete, plötzlich abschalten. Das war mir noch nie passiert. Klaus sagte: "Blicke als Umweltverschmutzung. Das ist mal eine ganz neue Sichtweise." Dorothea nahm die Sache sehr ernst, aber plötzlich prustete sie los und musste über seine Bemerkung lachen.

Dorothea führte uns zum Versammlungsplatz. Er war kreisrund. Ein richtiger Thingplatz. Überall wimmelte es von jungen Menschen. Sie trugen fast alle dunkle Kleidung. Wir mischten uns unter das junge Volk und wurden bald von einem jungen Mann freundlich angesprochen. Er fragte, woher wir kämen, wie lange wir bleiben wollten, ob wir schon über diesen Ort ausreichend informiert seien. Er fragte uns, ob wir Interesse an einem kleinen Vortrag hätten. Als wir begeistert nickten, entfernte er sich für kurze Zeit und kam dann mit einem blonden, jungen Mann im Schlepptau wieder. Wir begrüßten ihn und schüttelten ihm die Hände. Wir wurden gefragt, ob wir diesen Vortrag auch in englischer Sprache hören könnten und wir waren damit einverstanden. Anscheinend war das Empfangskomitee zur Osterzeit ganz schön im Stress. Der junge Mann mit den blonden Haaren führte uns in eine einfache Holzhütte. Wir setzten uns auf eine schmale Holzbank und der junge Mann begann seinen Vortrag. Als ich ihn genauer betrachtete, fiel mir auf, dass er wirklich noch blutjung war. Seine blauen Augen strahlten vor Begeisterung. Auf der hellen Haut sah man noch kleine Pubertätspickel. Er sprach liebevoll von Frère Roger, der sich 1940 in dem fast ausgestorbenen Dorf Taizé niedergelassen hatte. Er öffnete Flüchtlingen sein Haus, nahm Juden bei sich auf und kümmerte sich um deutsche Kriegsgefangene. Er wollte die Versöhnung unter den Menschen verwirklichen und zur Beilegung von Konflikten in der Menschheitsfamilie beitragen. Bald schlossen sich ihm die ersten Brüder an. 1949 binden sie sich endgültig zum gemeinsamen Leben, in Ehelosigkeit und großer Einfachheit. Zuerst kamen sie aus verschiedenen, evangelischen Kirchen, bald kamen aber auch Katholiken dazu. Seit 1957 kamen immer mehr junge Menschen nach Taizé. Sie kamen aus sechzig Nationen. Von Sonntag zu Sonntag finden die Jugendtreffen statt. In manchen Wochen versammeln sich dort sechstausend Menschen. Dreimal am Tag trifft man sich zum Gebet in der Kirche der Versöhnung. Sie wurde 1962 erbaut und 1990 erweitert. Die Brüder akzeptieren für sich keine Spenden oder Geschenke, sie leben ausschließlich von dem Erlös ihrer Arbeit. Ihre Erbschaften geben sie den Armen. Der junge Mann erzählte und strahlte uns immer noch an. Man sei auf der gemeinsamen Suche, um zu den Quellen des Glaubens zu gehen, einen Sinn für das Leben zu entdecken, verantwortliche Aufgaben zu übernehmen und den Pilgerweg des Vertrauens auf der Erde zu gehen. Und dann sprach dieser junge Mann immer wieder von dem Wort Hoffnung. Hoffnung auf Frieden. Die Hoffnung, diesen Keim des Friedens in die Herzen der Menschen zu säen. Hoffnung zur Heilung der Risse. Hoffnung auf Versöhnung.

In den Augen des jungen Mannes brannte ein Feuer. Ich musste auf einmal an meinen Guru aus Indien denken: Swami Hariharananda. Ein Heiliger. Ich sah ihn direkt vor mir. Ein alter, ehrwürdiger Mann, schon über neunzig Jahre alt, mit einem feinen, sensiblen Gesicht und langem, weißen Bart. In seinen Augen brannte auch immer noch das Feuer der Liebe und das Feuer der Begeisterung. Er konnte immer noch staunen wie ein kleines Kind, als hätte er die Welt zum ersten Mal erblickt. Ich sah wieder, wie er die Hände faltete und sich immer wieder verneigte. Ich hörte noch einmal seine Worte: "Ich verneige mich vor Jesus Christus. Ich verneige mich vor Buddha. Ich verneige mich vor Allah. Ich verneige mich vor Moses. Ich verneige mich vor Krishna. Ich verneige mich vor dem alleinigen Gott." Er hatte auch immer von der einen Quelle gesprochen, der alle Religionen entspringen. Er wollte, dass die Menschen ihrem ursprünglichen Glauben dienen und durch Meditation den Frieden finden. Nur wer in sich selbst den Frieden gefunden hat, kann Frieden stiften. Ich hörte noch einmal seine Worte: "Christus ist nicht tot. Christus ist unsterblich. Das Christusbewusstsein ist in dir. Wir sind nicht geboren, um zu streiten und Krieg zu bringen, wir sind für den Frieden geboren. Frieden im inneren Leben, Frieden im täglichen Leben, und diesen Frieden können wir immer mehr ausdehnen. Wir sind geboren, um zu lieben! Da ist ein Gott und wir sind alle seine Kinder. Wir atmen dieselbe Luft und spüren die Kraft Gottes. In uns allen wohnt ein Geist. Wenn die Menschen das nicht verstehen, dann streiten sie." So einfach war das. In diesem Moment war mir klar, dass mein Guru und Frère Roger das gleiche Ziel vor Augen hatten. In diesem Moment hatte ich das Gefühl, ich müsste von diesem Ort berichten. Sendungsbewusstsein! Der junge Mann hatte mich mit seiner Begeisterung angesteckt. Es war schon seltsam, aber es gab junge Menschen, die konnten in ihrer Entwicklung manchmal den Alten voraus sein. Dieser junge Mann wusste genau, wo sein Platz war. Ich musste wieder an das Foto von Jimmy Page denken und all die jungen Genies. Ich dachte an Georg Büchner und Hölderlin und Mozart. Und ich dachte an Jesus selbst, der ja nur dreiunddreißig Jahre alt geworden war. Man bleibt nur jung, wenn man auch bereit ist, sich von jungen Menschen etwas sagen zu lassen. Man bleibt nur jung, wenn man sich öffnet.

Nach dem Vortrag gingen wir an den vielen Holzhütten vorbei. In jeder der Hütten fand eine Bibelstunde oder ein Workshop statt. An den Türen hingen die Informationszettel. Dieser Ort erinnerte beinahe an den Wilden Westen oder an eine Goldgräberstadt. Ein friedlicher Wilder Westen, wo nur das alchemistische Gold der Seele zu finden war. Die Leute hier nannten Taizé auch eine Zelt- und Hüttenstadt. Wir waren jetzt wieder mitten im Menschenstrom und hörten Wortfetzen in den verschiedensten Sprachen. Dorothea führte uns zu einem runden Gebäude. Der Eingang erinnerte an ein Schneckenhaus. Im Innern befand sich eine kleine Kapelle. Mitten im Gewühl gab es hier wieder einen Raum der Andacht und der Stille. In der Mitte des Raumes stand ein Altar mit einem modernen Kruzifix. Vor dem Altar kniete eine Nonne und betete. Wir setzten uns auf die Stühle, die hier im Kreis entlang der Wände aufgestellt waren. Das Kreuz erinnerte immer an den großen Opfertod Jesu. Ich sah ihn auf einmal vor mir. Ich erinnerte mich an die Szene mit der Ehebrecherin. Die Pharisäer brachten die Frau zu ihm. Nach dem Gesetz sollte sie gesteinigt werden. Jesus bückte sich nieder und schrieb mit dem Finger auf die Erde. In den Sand geschrieben: Die Schrift verweht! Jesus richtete sich auf und sagte: "Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie." Er bückte sich und schrieb wieder auf die Erde. Niemand weiß, was er schrieb. In den Sand geschrieben: Für immer verweht! Da sie diese Worte hörten, gingen sie hinaus, einer nach dem anderen und Jesus war allein mit der Frau. Er fragte sie: " Weib, wo sind sie, deine Verkläger? Hat dich jemand verdammt? Sie aber sprach: "Herr, niemand." Jesus aber sprach: "So verdamme ich dich auch nicht; gehe hin und sündige hinfort nicht mehr." Dieser Freispruch kam von einem, der selbst ohne Sünde war. Obwohl er nicht wollte, dass man ihn gut nennt. Er war der Meinung, nur der Vater im Himmel sei gut. Die Pharisäer wollten ihn prüfen, ob er sich an den Buchstaben des Gesetzes halte. Für Jesus war nichts festgeschrieben. Er schrieb in den Sand. Er sprach kein Urteil. Seine Worte waren nur ganz tief in die Herzen der Menschen gedrungen. Ich dachte an das Herz Jesu. Es war so groß. Das Herz Jesu war ein feststehender Begriff, war zu einer Formel der Kirche geworden. Auf vielen Bildern war Jesus mit dem Herzen abgebildet. Er berührte es mit der Hand. Es erinnert uns daran, nicht nur unseren Verstand, sondern auch das Herz zu öffnen. Nur Judas hatte das vergessen und all die anderen, die nicht daran erinnert werden wollten. Sie hatten Jesus zum Tode verurteilt. Und nun war dieses Bild fixiert. Jesus stirbt und spricht: "Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun." Immer wenn ich dieses Bild sah, dann hörte ich eine ganz zarte Stimme in mir: "Vergib mir." Und dann kam mir immer das Vaterunser in den Sinn und ich betete, bis ich zu den Zeilen kam: Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern. Mir wird nur vergeben, wenn ich auch vergeben kann. Jesus wollte nicht nur, dass wir unseren Feinden vergeben, sondern wir sollten sie auch lieben. Eine große und schwere Übung. Würde nur diese eine Übung allen Menschen gelingen, dann lebten wir im ewigen Frieden. Diese Gedanken gingen mir durch den Kopf, während ich das Kreuz betrachtete. Würden die Menschen noch an Jesus denken, wenn er nicht am Kreuz gestorben wäre? Die Nonne kniete immer noch regungslos vor dem Altar. Kein Mensch hatte den Raum betreten. Es herrschte absolute Stille. Klaus und Dorothea saßen still neben mir. Klaus hatte die Augen geschlossen. Ich richtete meine Augen wieder auf den Altar. Die Stimme in mir sagte immer noch leise: "Vergib mir." Mein Herz versenkte sich in das Herz Jesu. Immer tiefer. In der Tiefe fand ich den Glauben an das uralte Wort Gnade, getragen von Hoffnung.

Die Gestalt am Kreuz war nur mit wenigen Strichen angedeutet. Bilder der Erinnerung schwebten wie ein Farbfilm ins Licht. Ich sah mich als ganz kleines Kind wieder durch ein wogendes Kornfeld laufen. Die Ähren glänzten golden im Sonnenlicht. Zum ersten Mal in meinem Leben sah ich ein Kruzifix. Es stand mitten im Kornfeld und war aus Silber gemacht. Es zeigte ein wunderschönes Gesicht. Die langen Locken fielen auf die Schultern des Gekreuzigten. Die sanften Konturen der halb geschlossenen Augenlider waren zu sehen. Das Haupt mit der Dornenkrone senkte sich traurig zur Erde nieder. Ich lief aufgeregt zu meinem Großvater und rief: "Ich habe den lieben Gott gesehen. Komm mit!" Mein Großvater schüttelte nur verständnislos den Kopf und sagte: "Kind, du spinnst." Ich nahm seine Hand und zog ihn mit mir ins Kornfeld. Als er das Kreuz sah, stand ihm der Mund offen. Er stand da, als hätte ihn der Blitz getroffen. Er sagte: "Kind, woher weißt du, dass es Gott ist?" Ich konnte ihm darauf keine Antwort geben. Ich sagte: "Ich weiß es einfach. Sieh nur, wie traurig er ist. Die Menschen haben ihn traurig gemacht. Warum? Wir müssen ihm unbedingt Blumen bringen." Mein Großvater sagte: "Weißt du, mein Kind, wir sind hier in Bayern und da stellen die Leute ein Kruzifix auf. So nennt sich das. Bei uns in Norddeutschland gibt es das nur in der Kirche. Es stellt wirklich den Sohn Gottes dar. Die Menschen haben ihn wirklich traurig gemacht. Warum das so ist, das erzähle ich dir, wenn du größer bist. Wir pflücken jetzt die schönsten Kornblumen und binden einen kleinen Strauß. Du kannst ihn dann an das Kruzifix stecken. Das ist ein schöner Brauch." In diesem Moment war ich so glücklich, dass ich auch einmal etwas für Gott tun konnte. Ich suchte die schönsten Kornblumen aus und mein kindliches Herz war voller Liebe. In all meinen Gebeten wollte ich immer zu diesem Augenblick zurückfinden.

Ich dachte daran, wie ich als Kind den festen Entschluss gefasst hatte, niemals eine Sünde zu begehen. Ich dachte bei mir, es könne doch nicht so schwer sein. Immerhin lag das ganze Leben noch vor mir. Zwei Jahre später spielte ich mit meiner Cousine vor der Haustür. Wir hatten einen Hoolahoop-Reifen geschenkt bekommen und schwangen ihn nun um die Hüften. Auf einmal stand ein blonder Junge vor uns, den wir noch nie gesehen hatten. Er sah uns eine Weile zu und fragte dann, ob er auch einmal mit dem Reifen spielen könne. Meine Cousine sagte: "Nein, das ist mein Reifen." Der Junge sah mich traurig an und ich äffte die Worte meiner Cousine einfach nach. Der Junge ging traurig davon. Als ich dann an diesem Abend zu Bett gegangen war, tat mir der Junge schrecklich leid. Warum hatte ich die Worte meiner Cousine einfach nachgeplappert? In diesem Moment war mir klar, dass ich eine Sünde begangen hatte. Ich hatte den Jungen traurig gemacht. Es wäre so leicht gewesen, ihm den Reifen für eine Weile zu leihen. Warum war ich so unaufmerksam gewesen? Jetzt rumorte es in meinem Herzen. Diese Sünde war nicht mehr rückgängig zu machen. Ich weinte die ganze Nacht. Die Tränen schärften meinen Blick für das Leuchten in den Augen der anderen Menschen. Ich wurde großzügig. Dennoch blieb es nicht bei dieser ersten Sünde. Kein Weg führte in die Unschuld zurück. Je älter wir werden, desto mehr müssen wir lernen, mit dem Gefühl der Reue zu leben und immer wieder hoffen wir auf Vergebung und einen Neuanfang. Ich musste an einen Dokumentarfilm denken, den ich im Fernsehen gesehen hatte. Ein Mann mit dem Namen Mendel Scheinfelds sprach während einer Bahnfahrt vor laufender Kamera über die schrecklichen Erlebnisse im Konzentrationslager. Er erinnerte sich an den Mann, der neben ihm im Bett geschlafen hatte. Der Aufseher hatte ihn so zusammengeschlagen, dass er in der Nacht gestorben war. Neben ihm lag ein Brot. Mendel Scheinfelds sagte: "Ich nahm sein Brot. Ich hatte so einen schrecklichen Hunger." Während er sprach, kämpfte er mit den Tränen und dann sein Aufschrei: "Warum?" Er schluchzte laut auf. "Warum habe ich das getan?" Er war zutiefst verzweifelt und sprach dann weiter: "Ich bin im Konzentrationslager zum Tier geworden. Ich nahm sein Brot. Ich wollte nur noch einmal satt sein und dann sterben. Ich hatte Gras gegessen, aber es machte nicht satt. Ich habe einem Toten das Brot gestohlen. Und warum habe ich das Brot nicht jemandem gegeben, der es noch dringender brauchte?" Er weinte wieder. Diese Szene in dem Film hatte mich unglaublich berührt. Am liebsten hätte ich diesen Mann in den Arm genommen, um ihn zu trösten. Wie gern hätte ich diesem sensiblen Mann das Schuldgefühl genommen. Ich fragte mich, wie der Aufseher mit seiner Schuld leben konnte. Ich erinnerte mich an das kalte und regungslose Gesicht von Adolf Eichmann, der die Transporte in die Vernichtungslager organisiert hatte. Vor Gericht betonte er immer wieder, dass er nur seine Pflicht erfüllt hätte. Er sah sich nur als Befehlsempfänger. Es gab kein Schuldbewusstsein und keine Reue. Wenn man darüber nachdachte, dann konnte man verzweifeln. Mendel Scheinfelds wurde gefragt, ob er die Deutschen hassen würde. Er sagte: "Es tut mir leid, aber ich kann nicht hassen. Ich hasse die Deutschen nicht. Der Hass hilft mir nicht und der Hass bringt mich nicht weiter." In diesem Menschen waren die Worte Jesu ganz lebendig. Seine große Seele wurde in dem Film ganz deutlich. Er konnte aufgrund seiner traumatischen Erlebnisse nicht mehr arbeiten und litt sehr darunter, aber später schrieb er ein Buch über sein Leben und führte die Menschen durch die Konzentrationslager. Der Film hatte ihm Mut gemacht, seine Erfahrungen und Gedanken weiterzugeben. Der Dokumentarfilmer hatte hier großartige Arbeit geleistet. Später machte man aus dem Film ein Theaterstück und Mendel Scheinfelds saß bei der Uraufführung in der ersten Reihe und fühlte sich geehrt. Jesus sagte, die Sünde macht den Menschen zum Knecht. Wenn wir aber auf seine Worte hören, dann macht die Wahrheit uns frei. Ich dachte an de Worte der Bergpredigt. Worte des Trostes und Worte der Hoffnung. Und diese Worte waren auch in unserer Zeit noch gültig. Mendel Scheinfelds und ein Dokumentarfilmer hatten es bewiesen. Aber auch so viele andere Menschen, auf die wir nicht immer achten oder von denen wir nichts wissen. Jeden Tag werden wir auch beschenkt. Wir hören schöne Musik im Radio, wir lesen ein Gedicht oder eine schöne Geschichte, die uns anregt. Auf der Straße oder im Supermarkt fällt uns ein freundliches Wort zu. Im Fernsehen und im Kino gibt es auch wunderbare Filme. Manchmal beobachtet man Menschen, die sich gegenseitig aufhelfen. Die Worte Jesu machen die Menschen noch immer schöpferisch und lassen sie wachsen. Wenn wir in seinem Sinne vollkommen wie der Vater im Himmel wären, dann wäre jedes Wort, das wir sprechen, von Liebe getragen.

Endlich waren meine Gedanken zur Ruhe gekommen. Aber da beugte sich Dorothea zu mir herüber. Sie wollte uns die Kirche der Versöhnung zeigen. Die Nonne stand auf und machte einen Knicks vor dem Altar und verließ mit uns den Raum. Der Weg war nicht weit.

Ich war wirklich erstaunt, als ich die riesige Kirche betrat. Überall hingen kleine Lampen wie Sterne von der Decke herab. Der ganze Raum war in die Farbe Orange getaucht. Orangefarbene Tücher erinnerten an Schiffssegel im Sonnenuntergang. Es gab keine Stühle und keine Bänke. Die Menschen saßen auf dem Fußboden. Einige saßen auch auf kleinen Meditationshockern vor dem Altar. Die ganze Zeit lief über Lautsprecher Barockmusik. Die Orgel in dieser Kirche war sehr modern. Sie war von lila Samt umrahmt. Ein schlichtes Weihwasserbecken stand neben der Treppe. Immer wieder zuckten die Blitzlichter der Kameras durch den Raum. Dorothea wollte noch den Workshop über Indien besuchen und Klaus wollte die Gegend weiter erkunden. Ich blieb allein in der Kirche zurück. Die vielen Kerzen vor dem Altar waren ein glitzerndes Meer. Ich wollte unbedingt noch eine Weile in diesem wunderbaren Gotteshaus verbringen. Die Musik war so feierlich und die Atmosphäre so friedlich. Die vielen Menschen waren alle in ein stilles Gebet oder in Meditation versunken. Ich fühlte mich hier auf einmal, als säße ich am See Genezareth im Sonnenuntergang. Ich musste an eine Filmszene aus Franco Zeffirellis Film "Jesus von Nazareth" denken. Langsam entrollte sie sich vor meinem geistigen Auge:

Das Boot des Simon Petrus segelt langsam an Land. Simon flucht. Die Netze sind leer. Er hat keinen Fang gemacht. Er hat nur die römischen Steuern im Netz. Der Steuereintreiber Matthäus treibt ihn in den Ruin und in die Verzweiflung. Jesus steht mit den Jüngern Andreas, Phillippus und Johannes an Land. Andreas ist der Bruder des Petrus. Andreas sagt zu seinem Bruder: "Jesus ist der Mann, von dem Johannes der Täufer gesprochen hat." Simon Petrus glaubt nicht mehr an die heiligen Männer. Ihre Versprechungen machen die Kinder auch nicht satt. Jesus will mit Petrus noch einmal hinausfahren. Petrus sträubt sich. Andreas will seinen Bruder noch einmal überreden. Petrus blickt Jesus tief in die Augen. Jesus sagt: "Was starrst du denn so an?" Der Blick Jesu weicht niemandem aus. Petrus hat etwas in diesen Augen gesehen. Petrus senkt die Augen und spricht: "Jetzt kannst du den Fischen predigen". Sie fahren noch einmal hinaus auf den See in das Abendsonnenlicht. Das Boot schwebt auf dem Wellengeglitzer und taucht in ein tiefes Orange. Als wäre dieser Moment in dieser Kirche für immer festgehalten. Jesus der Menschenfischer predigt still den Fischen und sie strömen ihm entgegen und schwimmen in das Netz. Petrus hat Gott noch eine Chance gegeben und nun darf er sich wundern. Petrus öffnet sein Herz und nimmt Jesus bei sich auf. Ein empfindlicher Punkt in seinem Leben.

Matthäus hat vom großen Fang gehört. Ein Wunder, verursacht durch einen Propheten mit dem Namen Jesus. Er wohnt bei Simon Petrus. Matthäus schreibt die Zahlen auf. Die Körbe mit den Fischen stehen vor seiner Tür. Simon Petrus schuldet ihm noch Steuern. Er macht sich auf den Weg, um sie endlich einzutreiben. Wenn der Mann so einen guten Fang gehabt hat, kann er sie auch zahlen.

Jesus sitzt im Hof vor dem Haus des Petrus. Das Volk hat sich um ihn versammelt. Er erzählt Gleichnisse vom Himmelreich. Das Himmelreich gleicht einem Schatz im Acker. Das Himmelreich gleicht einer Perle. Das Himmelreich gleicht einem Netz voller Fische. Das Himmelreich ist nah. Die Menschen hören ihm gebannt zu. Jesus der Poet. Jemand fragt: "Aber wann wird das Himmelreich kommen?" Jesus sagt: "Das Himmelreich ist da. Jetzt!" In diesem Moment taucht Matthäus auf. Er drängt sich durch die Menge und geht auf Jesus zu. Allein sein Anblick macht die Leute wütend. Man schimpft ihn Blutsauger und fordert ihn auf, das Haus zu verlassen. Matthäus ist unrein. Ein Sünder. Er verunreinigt das Haus. Er verunreinigt den Rabbi Jesus. Simon Petrus ist außer sich vor Wut. Er sagt: "Dreckskerl, du besudelst mein Haus!" Dieser elende Materialist, der Gottes Gebote nicht achtet, platzt in diesen heiligen Moment. Petrus fühlt sich wieder bedroht und ganz in die Ecke gedrängt. Matthäus sagt mit einem ironischen Unterton, er wolle den Wunderprediger sprechen. Petrus brüllt: "Nicht in meinem Haus!" Jesus sagt zu Matthäus: "Du scheinst hier nicht willkommen zu sein. Ich kenne zwar deinen Namen nicht, aber ich weiß, was du tust." Matthäus nennt seinen Namen. Eigentlich heißt er Levi. Jesus will ihn in seinem Haus zum Abendessen besuchen.

Petrus versteht die Welt nicht mehr. Warum verbündet sich Jesus mit seinem ärgsten Feind? Warum verunreinigt er sich im Haus der Sünder? Warum verstößt er gegen das Gesetz der Pharisäer? Man wird über ihn reden und die ganze Stadt wird sich von ihm abwenden. Petrus ist voller Zorn. Warum soll er Jesus jetzt folgen? Warum stürzt Jesus ihn in diesen Konflikt? Er ist doch nur ein einfacher Fischer.

Die Sonne ist untergegangen. Es ist dunkel geworden. Der Wind weht. Petrus klammert sich an seine Boote. Jakobus will Jesus auf dem Weg zurückhalten, denn in dem Haus des Matthäus gibt es nur Diebe, Huren und Wucherer, doch Jesus sagt nur: "Der Herr ist voller Gnade und Barmherzigkeit." Im Haus des Matthäus wird Musik gemacht und die Gäste haben schon viel getrunken. Matthäus springt auf, als er Jesus erblickt. Er schreitet tatsächlich über die Schwelle seines Hauses. Damit hat Matthäus nicht gerechnet. Die Musik verstummt. Matthäus sagt: "Rabbi, ich danke dir, dass du in mein Haus gekommen bist. Du bist willkommen hier." In seinem Gesicht spiegelt sich die Freude.

Petrus ist in seinem Boot eingeschlafen. Langsam wacht er auf. Der Gesang des Windes ist unheimlich. Mit schweren Schritten geht er zum Haus des Matthäus. Die Jünger stehen vor der offenen Tür und Petrus lehnt seinen schweren Kopf gegen den Türrahmen. Jesus hat sich niedergesetzt und will nun eine Geschichte erzählen. Ein langes Tuch bedeckt sein langes, gesalbtes Haar und nun nimmt er es ab. Der Lockenkopf Matthäus sitzt ihm gegenüber. Er gibt seinen Gästen ein Zeichen, damit sie still sind und ihm zuhören.

Jesus spricht in die Stille hinein: "Ein gewisser Mann hatte zwei Söhne. Der jüngere von ihnen sagte eines Tages zu seinem Vater: "Gib mir jetzt den Anteil des Vermögens, der mir zusteht." Der Vater tat es und teilte den Besitz zwischen seinen beiden Söhnen. Ein paar Tage danach nahm der jüngere seine Sachen und brach auf in ein fernes Land. Dort führte er ein ausschweifendes Leben und verprasste alles, was er besaß. Als er so alles durchgebracht hatte, kam es in diesem Land zu einer schweren Hungersnot und auch er fing an Not zu leiden. Darum ging er zu einem Bauern und ließ sich von ihm als Schweinehüter einstellen. Er war so hungrig, dass er auch die Johannisbrotschoten gegessen hätte, die man den Schweinen zu fressen gab, doch niemand gab ihm irgendetwas zu essen. Schließlich kam er zur Besinnung und sagte sich: Zuhause haben selbst die Tagelöhner meines Vaters genug zu essen und darben nicht und ich komme hier um vor Hunger. Ich werde nach Hause gehen und meinen Vater bitten, mich als Tagelöhner bei ihm einzustellen. Und so machte er sich auf den Weg. Als er noch ein ganzes Stück entfernt war vom Hause seines Vaters, und sein Vater ihn von weitem kommen sah, war er so bewegt vor Freude und Mitleid, dass er seinem Sohn entgegen lief und ihn umarmte und ihn küsste. Der Sohn sagte: "Vater, ich habe gegen den Himmel und gegen dich gesündigt. Ich bin es nicht mehr wert, dein Sohn zu heißen." Aber der Vater rief seine Knechte und sagte: " Bringt das beste Kleid im Haus und legt es ihm an. Steckt ihm Ringe an die Finger und gebt ihm Sandalen für seine Füße. Schlachtet ein gemästetes Kalb und lasst uns jetzt feiern und fröhlich sein. Mein Sohn war tot und nun lebt er wieder."

Der ältere Bruder war zu dieser Zeit noch draußen auf dem Feld und als er auf dem Weg nach Hause war, hörte er von Ferne schon Musik und Tanz. Er rief einen der Knechte herbei und fragte, was das bedeute, und er sagte es ihm, und als er das hörte, wurde der ältere Bruder sehr wütend und er weigerte sich, ins Haus zu gehen. Der Vater kam heraus und versuchte ihm zuzureden. Aber er wollte nichts davon hören. "All die Jahre habe ich für dich gearbeitet! Die ganze Zeit! All die Jahre habe ich nie eines deiner Gebote übertreten. Aber in der ganzen Zeit hast du mir nicht ein einziges Mal auch nur einen Ziegenbock schlachten lassen, um mit meinen Freunden zu feiern. Und jetzt, wo mein Bruder zurückkommt, der dein ganzes Geld durchgebracht hat, mit Huren, lässt du für ihn ein gemästetes Kalb schlachten." "Bitte", sagte der Vater. "Bitte versuche zu verstehen. Du bist doch allzeit bei mir. Alles was mir gehört, gehört auch dir. Heute haben wir Grund zu feiern. Dein Bruder war tot und er lebt wieder. Er war verloren und ist wieder gefunden."

Jesu Stimme ist verklungen. Matthäus hatte die ganze Zeit still zugehört und kämpfte mit den Tränen. Er hatte begriffen, dass er der verlorene Sohn war. Jesus hatte den Weg seiner Seele beschrieben, die sich immer mehr von Gott entfernte. Er hatte alle Gaben, alle Tugenden verprasst. Am Ende war er Schweinehüter geworden, ein Aussätziger, von allen Menschen verachtet. Seine Seele hatte diesen Hunger, nichts befruchtete sie mehr. Das Geld seiner armen Brüder rann ihm durch die Finger und sein Herz war wie versteinert. Er war in eine tiefe Depression gesunken und fühlte sich wie tot. Und nun kam Jesus und spürte diese alte Sehnsucht in ihm wieder auf. Er stand am Abgrund, aber Gott kam ihm wie ein Vater entgegen. Gott nahm in mit offenen Armen wieder auf. Jesus hatte sein Herz berührt und die aufsteigenden Tränen erweckten ihn wieder zum Leben. Jetzt wusste er, dass Gott ihn noch liebt. Levi war wieder zu Hause. Gott hatte ihn gesucht und gefunden, um ihn von den Qualen der Seele zu erlösen.

Petrus lehnt mit geschlossenen Augen am Türpfosten. Er hatte alles gehört. Er war der ältere Bruder, der so wütend gewesen ist. Jetzt hat auch er begriffen. Gott hat ihm nie ein Fest bereitet. Aber das brauchte er auch nicht, weil er immer von Gott behütet worden ist. Jetzt begreift Petrus, wie es ist, wenn man sich von Gott entfernt und verstoßen ist. Petrus macht einen Schritt in das Haus und geht auf Jesus zu. Er sagt: "Vergib mir Meister. Ich bin ein Dummkopf gewesen." Petrus legt seine Hand auf die Schulter des Matthäus. Jetzt sind sie Brüder.

Diese Szene aus dem Film wurde in dieser Kirche wieder ganz lebendig. Sie war mir unvergesslich. Ich dachte an die Worte des Evangelisten Johannes: Am Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen. Das Wort ist in Jesus Christus Fleisch geworden. Jesus hat nur eine Geschichte erzählt. Man muss beachten, in welchem Zusammenhang diese Geschichte erzählt worden ist. Jesus hat mit seinen Geschichten die Seele der Menschen geheilt und vielleicht hat er damit auch die Welt verändert. Zuerst ändern sich die Menschen, dann die Königreiche. Jesus hatte auch ein Tabu gebrochen, als er die Frauen in seinen Kreis aufnahm. Die Tränen der Maria Magdalena benetzten seine Füße und er ließ es zu, dass sie diese Tränen mit ihren Haaren abwischte. Jesus erkannte ihre große Liebe. Diese Liebe zu Gott war ihm wichtiger als alles andere. Er wollte das Gesetz Gottes in unsere Herzen schreiben. Bei ihm gab es immer einen Weg zurück. Es gab immer einen Neuanfang. Wäre das Gesetz Gottes in die Herzen der Menschen geschrieben, dann gäbe es keine Kriege. Aber diese Wahrheit lässt sich nicht überstülpen. Diese Wahrheit muss sich jeder Mensch selbst erarbeiten. Aus diesem Grund kann Jesus sich nicht zum König ausrufen lassen. Sein Reich ist nicht von dieser Welt. Auch Buddha hat aus diesem Grunde der Welt entsagt. Alle erleuchteten Menschen haben es gewusst: Es gibt nur den Weg des Individuums. Im Kollektiv haben wir noch nicht gelernt, ohne ein starres Gesetz zu leben, das uns an die Kandare nimmt. Gier und Hass machen uns immer noch blind für das eigene Spiegelbild im Auge des anderen Menschen.

Ich saß noch eine ganze Weile in dieser Kirche und ließ mich von der Musik tragen. Ich sprach ein stilles Gebet für den Frieden. Der Friede an diesem Ort sollte sich auf die ganze Welt ausdehnen. Langsam ließ ich alle Gedanken los. Ich schloss die Augen. Bald konnte ich den Frieden Gottes in mir spüren. Ein süßes Gefühl, das alle Sorgen und alle Wünsche loslässt. Alles ist gut, so wie es ist. Gott flüsterte in der Musik. Die Zeit schien still zu stehen, aber da klopfte mir Dorothea leicht auf die Schulter. "Hast du keinen Hunger?" fragte sie. Ich spürte ein flaues Gefühl in der Magengegend und nickte. Klaus sah mich mit seinen großen Augen an und lächelte. Ein junger Mann mit ganz langen Haaren, die bis auf die Hüften reichten, bat mich darum, Platz zu machen. Der Gottesdienst sollte bald beginnen und direkt hinter mir wurden die Wände der Kirche hochgefahren, um Raum für die vielen Menschen zu schaffen.

Draußen wurde unter einem großen Dach das Essen verteilt. Vor den riesigen Pfannen bildeten sich überall Menschenschlangen. Wir stellten uns hinten an. Jeder bekam für einen kleinen Coupon eine bunte Plastikschüssel und einen Löffel in die Hand. Wir bekamen Nudeln mit Tomatensauce aus der Kelle serviert. Das Essen war einfach, aber es schmeckte. An einem kleinen Stand konnte man heißen Tee bekommen. Die jungen Leute hatten kleine Kreise gebildet. Ein junger Mann spielte Gitarre. Einige sangen dazu und es wurde getanzt. Die Stimmung war fröhlich. Paare saßen beisammen, lachten und unterhielten sich. Wir machten noch einen Spaziergang. Hinter den Parkplätzen führte ein Weg an grünen Wiesen entlang. Auf dem Rückweg gingen wir in den Andenkenladen. Es war ein schöner, lichtdurchfluteter Raum. Hier konnte man all die schönen Töpferwaren betrachten, die von den Mönchen hergestellt wurden. Sie waren schlicht und einfach und schön. Es gab Schüsseln und Schalen und Becher, die mit einer farbigen Glasur überzogen waren. Es gab sogar Becher für das Abendmahl zu kaufen. Ich kaufte mir einen schlichten Becher mit einem schönen Muster. Über zwei Blättern, die sich wie Flügel entfalteten, schwebte ein runder Punkt wie eine Sonne. In diesem Gefäß wollte ich meine Schreibstifte verwahren. Wir stöberten in den vielen Büchern, betrachteten die kleinen Broschen und all die anderen kleinen Kostbarkeiten. Als wir hinausgingen, war es schon Abend geworden.

Die Menschen strömten der Kirche entgegen. Der Abendgottesdienst sollte beginnen. Bald sah man die vielen Menschen auf dem Fußboden der Kirche sitzen. Ein Menschenmeer. Man hörte das Raunen und Flüstern wie eine große Brandung. Der junge Mann mit den langen Haaren ging durch die Reihen und legte den Zeigefinger auf den Mund. Er wollte die Menschen zur Ruhe bringen. Nach einer Weile herrschte dann endlich Schweigen. Wir saßen ganz hinten und konnten den Altar nicht sehen. Gesänge erklangen. Schöne, glasklare Gesänge, die unendlich lange im Raum schwebten und langsam ein Gefühl der Trance auslösten. Zwischendurch die Andacht und Gebete. Dann wurde das Abendmahl gefeiert und danach wandelten die Mönche in hellen Leinenkutten mit großen Krügen und Tüchern über dem Arm an uns vorbei. Am Gründonnerstag hatte Jesus den Jüngern die Füße gewaschen. Die Kerzen flackerten im leuchtenden Orange. Die Zeremonie dauerte sehr lange und langsam taten die Beine auf dem harten Fußboden weh. Aber die Zeit schien auch endlos zu sein und beinahe wie aufgehoben. Die Gesänge, das Anheben der Stimme vereinte die Menschen im Frieden und trug die Gedanken in den Himmel. Langsam wandelten die Mönche an uns vorbei. Ganz zum Schluss kam Frére Roger direkt auf uns zu. Ein kräftiger Mönch geleitete den alten Mann. Er trug einen kleinen Hocker und stellte ihn direkt vor mir auf. Frére Roger setzte sich hin und sofort bildeten sich vor ihm lange Menschenschlangen. Sein Gesicht war zart und schien jung geblieben. Die sorgsam gescheitelten Haare sahen in diesem Licht wie Flachs aus. Seine Augen blickten freundlich und leuchteten. Er wirkte sehr feingliedrig. Er war jetzt bereit, den Menschen zuzuhören und seinen Segen zu geben. Der kräftige Mönch stand an seiner Seite gab mit einem Winken zu verstehen, wann jemand an den heiligen Mann herantreten durfte. Mit der flachen Hand wurde der Zudrang gestoppt. Die jungen Leute verneigten sich vor ihm. Geflüsterte Worte. Zuwendung mit einem Lächeln. Wirklich hinhören. Trost spenden. Aufmuntern. Hoffnung machen. All diese kleinen, liebevollen Gesten konnte ich an ihm beobachten. Ich bewunderte seine große Geduld. Die Menschenschlangen vor ihm wurden immer länger und er saß die ganze Zeit auf diesem kleinen Holzhocker. Er schenkte allen Menschen die gleiche Aufmerksamkeit. Immer wieder huschte ein Lächeln über sein Gesicht. Er legte die Hand zum Segen auf und manchmal flüsterte ihm jemand etwas ins Ohr und er flüsterte zurück. Diese Prozedur dauerte unendlich lange. Als sich die langen Schlangen endlich aufgelöst hatten, erhob sich Frére Roger langsam und der Gottesdienst war zu Ende.

Als wir das Dorf verließen, war es schon dunkel geworden. Ich war sehr glücklich, dass ich Frére Roger aus der Nähe betrachten durfte. Den Anblick eines Heiligen nennen die Inder Darshan. Allein der Anblick gereicht den Menschen zum Segen. Die Kirche hatte Frére Roger nicht heilig gesprochen, aber für mich war er ein Heiliger, weil er sein Leben Gott geweiht und seine Vision von einer Begegnungsstätte an einem Ort des Friedens verwirklicht hatte. Heilige Männer strahlen immer Liebe, Frieden, Ruhe und Heiterkeit aus. Diese goldene Aura durchdringt für eine Weile die Seele der Suchenden. Wir waren in einer ruhigen und gehobenen Stimmung, als wir in unser Auto einstiegen, um die Rückfahrt nach Balland anzutreten. Die Zurückgeblieben versammelten sich in den Waschräumen, um sich für die hereinbrechende Nacht frisch zu machen.

Auf der Schnellstraße waren Warnlichter zu sehen. Eine andere Ente hatte eine Panne. Zwei junge Männer waren mit dem Wagenheber unterwegs. Nun waren wir wieder in der Welt mit all ihren Aufregungen, der Hektik und den immer wechselnden, bunten Bildern, die mit zunehmendem Alter im immer größeren Affentempo an uns vorbeiziehen. Aber so war es immer nur im Nachhinein betrachtet. In allem lag auch immer ein Grau des Tages, ein Innehalten, ein Warten, Momente der Kontemplation und die zarten Schleier der Poesie. In allem waren auch Magie und der Aufruhr der Liebe. Die jungen Männer drehten mit dem Drehkreuz am Rad. Ich dachte wieder an Armin. Der Aufruhr der Liebe ließ sein Bild nicht los. Ich sah ihn wieder mit dem Drehkreuz in der Hand vor einem großen, amerikanischen Schlitten hocken. Ein silberner Oldtimer. Die Garagentür hinter ihm war offen. Auf der Straße lagen überall Autoteile und Werkzeuge herum. Anscheinend war er dabei, das Auto vollkommen auseinander zu nehmen und wieder zusammenzusetzen. Um ihn herum hatten sich junge Leute versammelt und sahen ihm zu. Er trug einen grauen Monteuranzug. Ich kam langsam näher und bemerkte ein Zittern im ganzen Körper. Ich spürte diesen unsichtbaren Strom, der von ihm ausging. Mein Herz klopfte in wilder Erregung beim Näherkommen. Es schlug mir bis zum Hals und selbst in den Kniekehlen spürte ich ein wildes Pochen. Ich fühlte mich in diesem Augenblick wieder wie ein ganz junges Mädchen. Als hätte ich mich zum ersten Mal verliebt. Alles in mir war in Aufruhr. Ich konnte keinen klaren Gedanken fassen. Meine Schritte wurden unsicher. Er sah in meine Richtung. Er sah mich mit seinen großen Augen an. In den Augen war ein helles Leuchten, als würden sie für Sekunden den Himmel spiegeln. In seinen silbergrauen Haaren sah ich helle Strähnen. Die vollen, weichen Lippen waren sanft geschwungen im blassen Rosa. Er war wirklich schön. Ein ernster Ausdruck lag in seinem Gesicht, gleichzeitig aber auch diese Offenheit und das leichte Staunen, als würde ein Engel auf ihn zukommen, als hätte er nur einen Engel erwartet. Ich wagte nicht, ihn anzusprechen. Die Blicke der jungen Leute ruhten auf ihm. Sie waren fasziniert von der sachverständigen Arbeit an diesem exotischen Auto. Er grüßte mich freundlich und ich grüßte mit einem Lächeln zurück. Ich war mir sicher, dass ich ihn wiedersehen würde. Aber konnte man sich da wirklich sicher sein? Mein Herz pochte und raste noch immer. Ich spürte den Boden unter den Füßen nicht mehr. Die nächsten Tage und Wochen ging er mir nicht mehr aus dem Sinn. Ich hatte immer dieses schöne Gesicht vor Augen. Die Farbe seiner Augen war in diesem Leuchten nicht auszumachen. Ich hatte ihm noch nicht lange und tief genug in die Augen geblickt.

Wir fuhren in der Dunkelheit in unser kleines Bergdorf zurück und verbrachten dort noch zwei geruhsame Tage. Wir kauften Blumen und pflanzten sie in das kleine Blumenbeet unter der Treppe. Wir zupften Unkraut, harkten und stachen den Löwenzahn aus, der sich überall im Vorhof ausbreitete. Aus den Blättern machten wir Salat. Dorothea kochte herrliche Gerichte. Die französische Küche war einfach wunderbar. Es gab Käse in allen Variationen zum knusprigen Baguette. Die Weine waren nicht zu übertreffen. Die Gänsebrust zerging auf der Zunge und die gefüllten Teigtaschen waren ein Gedicht. Zum Nachtisch gab es für mich immer braunen Karamellpudding, den ich besonders liebte.

Zwei Tage später fuhren wir nach Gruissant ans Meer. Ein kleiner, schöner Ferienort mit vielen Pinien und einem kleinen Hafen. Dort wehte der Mistral, ein eiskalter Wind. Die bunten Segel der Surfer glitten in rasender Geschwindigkeit über die kleinen Schaumwellen hinweg. Das Meer leuchtete wie ein Juwel. Der Sandstrand erinnerte an die Wüste. Über den kleinen Dünen wehte der Wind, wirbelte den Sand in die Luft und hinterließ Schlangenspuren im Sand. Immerzu wehten uns die Haare ins Gesicht. Direkt am Strand gab es kleine Läden, in denen man frische Austern kaufen konnte. Bald wollten wir dem Wind entfliehen, gegen den wir uns mit ganzer Körperkraft stemmen mussten. Er zerrte an den Jacken und jammerte uns die Ohren voll. Wir flüchteten ins Landesinnere und suchten uns ein kleines Café. Davor standen ein paar Tische und Stühle direkt in der Sonne. Wir tranken Kaffee und aßen leckere Erdbeertörtchen. Wir genossen die Wärme und die Stille. Nur die Vögel zwitscherten. Dorothea hatte Engelskarten in der Tasche. Sie zog eine Karte aus dem Stapel und wollte, dass Klaus und ich auch eine Karte ziehen. Dorotheas Karte war der Engel des Vertrauens. Klaus zog den Engel der Fülle und ich den Engel der Macht. Dorothea hatte immer Vertrauen zu den Menschen und Vertrauen in das Leben. Klaus suchte die Fülle in der Natur. Er war ein Naturliebhaber und ein Naturschützer und hatte sein Pflanzenbuch immer in der Tasche. Mit meiner Karte konnte ich nicht viel anfangen. Ich hatte niemals nach Macht gestrebt. Aber vielleicht war ja die Macht der Worte gemeint. Jedenfalls regten die Karte dazu an, über einen Begriff im positiven Sinne nachzudenken. Wir kamen darüber in ein langes und heiteres Gespräch und merkten nicht, wie die Zeit verging.

Wir machten noch einen Ausflug und besichtigten an einem Berghang alte Seemannsgräber. Später kletterten wir noch auf eine alte Burgruine und betrachteten den Sonnenuntergang. Langsam war die Zeit des Abschieds gekommen. Abschied von Frankreich. Abschied von den Freunden. Der Sonnenball tauchte wieder in ein festliches Orange. Diese goldberauschte Feuerfarbe war auch immer die Lieblingsfarbe meines verstorbenen Mannes gewesen. Ich hatte ihn über alles geliebt. Er wurde im Herbst geboren. Zu dieser Jahreszeit leuchten die Blätter in dieser warmen Farbe, als wolle der Sommer im Tode noch einmal aufglühen. Es war die Farbe des immer wiederkehrenden Abschieds und die Farbe des Übergangs. Eine Farbe der Transzendenz. Vielleicht hatten die Mönche in Taizé aus diesem Grund diese Farbe für ihre große Kirche gewählt. Im Herbst und im Sonnenuntergang brennt die Sonne nicht mehr, da wird sie sanft und barmherzig. Im diesem Licht des Herbstes und des Sonnenuntergangs liegt ein großes Loslassen der Gedanken, bevor die Nacht und der Winter anbricht. Darin liegt immer eine leichte Wehmut und der Hang zur Poesie. Nacht und Winter lassen uns nach innen gehen. Die blauschwarze Nacht zwingt uns im Schlaf zur Ruhe und trägt die Seele in die Welt der Träume. Für eine Weile entrinnen wir der Erdenschwere und den Zwängen der kausalen Welt. Im Winter führt uns der Schnee in die Stille. In Nacht und Winter und Tod lag auch ein süßes Vergessen. Aber in jeder Morgenstunde und im Frühling lag wieder Erneuerung und Aufbruch. Vielleicht lag auch in der großen Ruhe des Todes nur Heimkehr und Umkehr. Die verschwenderische Festlichkeit des Abendsonnenlichts führte meine Gedanken bis an die Grenze. Die Gedanken flossen dahin wie eine freie Improvisation im Jazz. Gedanken sind auch immer Musik. Jedes Wort wird von Noten getragen. Mit der sinkenden Sonne waren die Worte nun verklungen. Dorothea und Klaus spürten auch den leichten Schmerz, der im Abschied dieses Abends lag. Bald würden sich unsere Wege wieder trennen.

Auf der Rückfahrt nach Gruissant entdeckten wir noch einen kleinen See mit Flamingos und Säbelschnäblern. Klaus war über diesen Anblick ganz begeistert und stieg aus dem Wagen, um die Paradiesvögel aus der Nähe zu betrachten. In Gruissant wehte immer noch der kalte Mistral. Die Pinien beugten sich seiner Gewalt. Bald würde der Wind sich legen und dann würde es sehr warm werden. Wir hatten den falschen Zeitpunkt erwischt. Vor unserer Ankunft hatte es hier schon sommerliche Temperaturen gegeben. Aber dieser eiskalte Wind über der Hochsommerlandschaft hatte seinen eigenen Reiz. Dieser Fallwind mit dem exotisch klingenden Namen gehörte zu Frankreich und grub sich tief ins Gedächtnis, weil er so kraftvoll war. Gleich am nächsten Morgen fuhren wir nach Balland zurück. Wir fuhren fast den ganzen Tag nur auf der Autobahn. Viele Ausflügler waren mit uns unterwegs. Immer wieder mussten wir in der Autoschlange stehen, um die Autobahngebühr zu bezahlen. Das Land ringsumher lag immer noch unter Wasser. Vor einiger Zeit hatte es hier eine Überschwemmung gegeben. Im Fernsehen hatte man ausführlich darüber berichtet. Als Hamburger Hafenmensch war man die ständigen Sturmflutwarnungen im Frühjahr und im Herbst schon gewohnt. Die Keller der Freunde, die am Hafen wohnten, standen schon manchmal unter Wasser. Als Kind hatte ich die große Sturmflut von 1962 erlebt. Als der Sturm anfing, ging ich mit meiner Mutter gerade nach Hause. Wir hatten meine Großmutter besucht. Wir wunderten uns, denn alle Straßenlaternen und alle Ampeln waren ausgefallen. Der Wind tobte wie wild und es regnete. Mein Vater kam ganz aufgeregt nach Hause. Er hatte sein Auto in der Nähe des Hafens geparkt. Dort waren die Straßen abgesperrt und er stand schon mit den Knien im Wasser. Mein kleines Kofferradio mit Batteriebetrieb wurde auf einmal ein ganz wichtiger Gegenstand, denn bald war in der ganzen Stadt über mehrere Tage der Strom ausgefallen und ich fand es einfach nur schön und gemütlich bei Kerzenlicht zusammenzusitzen. Ohne Radio und Fernseher kam man sich ganz nah. Am Tage konnte man nur kurz hinausgehen, weil der Wind um die Ecken fegte und Dachziegel auf die Straße fielen. Uralte Bäume wurden samt Wurzel einfach ausgerissen und blockierten die Straßen. In der Nacht rauschten die Leuchtraketen der Schiffe in den Himmel. Als wir dann aber später die Bilder im Fernsehen sahen, die verzweifelte Menschen auf ihren Dächern zeigten, da wurde uns klar, wie ernst die Lage gewesen war. Über dreihundert Menschen hatten den Tod gefunden. Viele waren obdachlos geworden und das Vieh war hilflos auf den Weiden ertrunken. Wir hatten Glück gehabt, dass unser Stadtteil hoch genug lag. Wir Hamburger wissen genau, was Windstärke zwölf bedeutet. Ich dachte an einen Freund, der in Büsum direkt hinter dem Deich lebt. In den Zeiten des Sturms ruft er mich manchmal an. Da war immer die Angst, die Deiche könnten brechen. Eine Angst, die der Binnenländer und Gebirgler nicht kennt. Ich sah die Wiesen um mich her im Wasserglanz. Während der ganzen Rückfahrt nach Balland kamen mir alte Erinnerungen und die Gedanken an meine Freunde in den Sinn. Ich dachte an meinen Sohn und meine Familie, da war schon diese Freude in mir, sie bald wieder zu sehen. Zärtliche Seelenbande zogen mich schon sanft nach Hause.

Wir erreichten Balland erst spät am Abend. Wir genossen noch einmal die Ruhe in unserem Bergdorf. Dorothea studiert am Morgen noch einmal den Mondkalender. Der Mond stand die nächsten Tage im Wassermann. Das konnte ein unvorhergesehenes Ereignis bedeuten. Der Wassermann war ein sehr humanes und intelligentes, aber auch unruhiges Luftzeichen. Für eine lange Fahrt im Auto war das nicht unbedingt günstig. Nach dem Frühstück schleppten wir in wilder Hektik unser Gepäck in das Auto, denn Dorothea musste rechtzeitig wieder zu Hause sein, um das Medizinstudium anzutreten. Bald ging es wieder über die Dörfer. Wir machten noch einen kleinen Abstecher und besuchten Dorotheas Schwester. Sie lebte auf einem Reiterhof. Hier fühlte man sich wirklich wie auf dem Lande. Im Hof wurden wir von einem Hund freundlich begrüßt. Im Wohnraum lagen Reitstiefel neben dem alten Ofen. In einem großen, offenen Schrank standen Töpfe und Lebensmittel, aber auch Werkzeuge und Gummistiefel. Wir bekamen ein Nudelgericht angeboten und tranken schwarzen Kaffee. Der Blick aus dem Fenster zeigte eine Wiese mit Hürden für die Pferde. Dorotheas Schwester sprach mit Stolz in der Stimme von den Siegen ihrer Pferde und sie sprach von Bruno, der nicht anwesend war. An der Lampe hing eine Stoffrosette mit einer Schleife, ein stolze Schmuck und Siegespreis für die Pferde. Dorotheas Schwester erzählte uns, dass man sie Floh nannte. Sie sprach von den Anmeldungen zu neuen Turnieren und den Siegen und immer wieder von Bruno, dessen Namen sie französisch aussprach. Sie war sehr besorgt, weil gerade jetzt die Maul- und Klauenseuche wieder ausgebrochen war. In den Medien wurde in letzter Zeit ständig über Tierseuchen berichtet. Die Massentierhaltung der letzten Jahrzehnte war grausam gewesen und jetzt kamen wieder neue und schreckliche Details an die Oberfläche. Wir gingen zu den Ställen und betrachteten die Pferde. Ich war als junges Mädchen zur Reitschule gegangen. Ich war eine echte Pferdenärrin gewesen. Pferde waren sehr klug und verfügten über ausgeprägte Charaktereigenschaften. Ich dachte an Gimpel, der sich immer auf den Rücken legte, um mit den Kindern zu spielen. Immer wenn sie ihm den Bauch ordentlich kraulten, fing er vor Freude an zu wiehern. Er war wirklich gern albern. Wotan fing an zu keilen und wurde bissig, wenn er nicht zuerst in die Reithalle tänzeln durfte. Er war sehr klein und litt regelrecht an einem Minderwertigkeitskomplex. Er war neidisch und eitel. Max war verfressen und konnte nicht genug Liebe bekommen. Er versperrte mir immer den Ausgang und knabberte an meinen Taschen, wenn ich nicht mindestens noch eine zweite Möhre und eine weitere Streicheleinheit für ihn hatte. Die Stute Karina legte ihren ganzen Körper schützend über mich, als ich im wilden Galopp von ihrem Rücken gefallen war. Kurz vorher sah ich die Hufe der anderen Pferde auf mich zukommen. Sie hätten mir sicher den Kopf zertreten. Karina hat mir das Leben gerettet. Der Leithengst Ali wollte immer sicher sein, dass die Katze schnurrend auf ihrem Stammplatz auf der Heizung lag, denn Pferde haben große Angst vor Mäusen und deshalb lieben sie die Katzen so sehr. All die Erinnerungen kamen wieder hoch, als wir in die Ställe gingen, um die Pferde in ihren Boxen zu betrachten. Ich empfand immer noch diese große Liebe zu diesen Tieren und hatte großen Respekt vor ihnen. Die Pferde im Stall hatten glänzendes Fell und wache Augen. Man merkte sofort, dass es ihnen hier sehr gut ging. Dorotheas Schwester musste jetzt die Pferde bewegen und aus diesem Grunde mussten wir uns schnell verabschieden.

Wir schlängelten uns noch kurz durch die Hügel und fuhren dann auf die Autobahn. Während der langen Fahrt hatte man wieder genug Zeit, um den Gedanken freien Lauf zu lassen. Wie würde nur die Geschichte mit Armin weitergehen? Ich war ihm zuletzt am ersten Weihnachtstag vor seiner Haustür begegnet. Als er mich sah, da blieb er stehen und wünschte mir frohe und geruhsame Weihnachtstage. In seiner Stimme lag eine Feierlichkeit, eine liebevolle Ernsthaftigkeit, die mich ganz tief berührte. Ich legte auch dieses Gefühl in meine Antwort. Leise rieselten kleine Schneeflocken auf uns herab. Ich fing wieder leicht an zu zittern, als ich ihn genauer betrachtete. Ich sah die graue Löwenmähne voller Schneeflocken, die ihn wirklich prachtvoll schmückte. In seinen Augen war wieder dieses geheimnisvolle Leuchten, das im Licht aufblitzte. Er trug eine weinrote Lederhose mit kleinen Schlaufen. Seine Bewegungen waren geschmeidig. So langsam kam mir ins Bewusstsein, dass er noch ein junger Mann war. Er war sicherlich zehn Jahre jünger als ich. Ich kam mir nur noch alt und töricht vor. Im nächsten Moment ging er zum Wagen und fragte mich, ob er mich nicht mitnehmen könne. Er öffnete die Wagentür und diesmal zögerte ich keinen Augenblick und stieg einfach ein. Er fragte, wo er mich denn hinfahren solle. Ich wollte zum Friedhof, um das Grab meines Mannes zu besuchen. Wir kamen über dieses Thema gleich in ein intensives Gespräch. Er bot mir gleich das Du an und ich fragte ihn nach seinem Namen. Er hieß Armin. Dieser Name hatte einen warmen Klang und er passte zu ihm. Ich war ganz verliebt in den Klang dieses Namens. Er wollte wissen, wann mein Mann gestorben und wie alt er geworden war. In seiner Stimme lag keine Neugier, sondern echtes Mitgefühl. Ich erzählte ihm, dass er mit vierundvierzig Jahren an Krebs gestorben war und dass er über all die Jahre immer die ganz große Liebe meines Lebens gewesen ist. Ich öffnete ihm in diesem Gespräch mein Herz, denn er war ein aufmerksamer und liebevoller Zuhörer. Ich erzählte ihm, wie schwer mir der Abschied von ihm gefallen war und dass ich diesen Schicksalsschlag noch immer nicht ganz überwunden hatte. Er sagte: " Das tut mir sehr leid. Ich kann das gut nachfühlen. Ich habe meinen Vater verloren, als ich noch ein Kind war. Er ist sehr jung bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Ich vermisse ihn immer noch. Ich bin eigentlich auch bis heute noch nicht über seinen Tod hinweggekommen. Ein Rest von Trauer und Schmerz bleibt wohl immer, wenn man einen Menschen sehr geliebt hat. Ich will auch einmal wieder sein Grab besuchen. Warum müssen nur immer die guten Menschen so früh sterben?" Nach einer kurzen Pause fragte er mich nach dem Namen meines Mannes. Ich sagte ihm, dass er Wolfgang hieß. Er kam über diesen Namen einen Augenblick ins Träumen. Er sagte: "Ich hatte einmal einen guten Freund, der Wolfgang hieß. Ich mochte ihn wirklich sehr gern. Er war sehr warmherzig und man konnte sich immer auf ihn verlassen. Anscheinend tragen nur die wirklich guten und lieben Menschen diesen Namen." In diesem Moment war es mir, als hätten seine Worte ganz zärtlich meine Seele gestreichelt. Er war so mitfühlend und einfühlsam. Er hatte ein großes Herz und das machte mich glücklich. Allein seine Freundschaft würde mir viel bedeuten. Er bot mir eine Zigarette an und schaltete das Radio ein. Er suchte einen Sender mit Rockmusik. Ich fragte ihn: "Magst du die Doors?" Ich musste dabei lächeln, weil ich die Antwort ja schon kannte. Ich wollte ihn auf ein fröhliches Thema hinlenken. Er sagte mit Begeisterung in der Stimme: "Oh ja, ich liebe die Doors. Ich habe auch den Spielfilm über Jim Morrison gesehen. Ich mag überhaupt nur die alte Musik." Ich musste innerlich lachen und fand seine Ausdrucksweise einfach rührend. Bisher hatte noch niemand den Begriff alte Musik für die Rockmusik verwendet. Nicht einmal mein Sohn. Es klang, als würde er mit Ehrfurcht von klassischer Musik sprechen. In meiner Jugend war diese Musik noch ganz neu und revolutionär gewesen. Leider reichte die Zeit nicht aus, um ihm davon zu erzählen. Und wieder wurde mir klar, dass er noch ein ganz junger Mann war. Wir sprachen noch über die Doors und dann war es, als hätte er meine Gedanken gehört und wolle alle Bedenken über unseren Altersunterschied zerstreuen. Er sagte: "Ich habe immer das Gefühl, als sei ich zu spät auf die Welt gekommen. Ich liebe die Musik, die Filme, die Autos und das Lebensgefühl der sechziger und siebziger Jahre. Damals wäre ich wohl ein Hippie gewesen. Ich kann mit den Leuten meines Alters gar nicht viel anfangen. Ich habe ganz andere Interessen. Ich höre andere Musik und lese andere Bücher. Manchmal macht mir das Probleme." Ich fragte ihn nach seinem Alter. Er war acht Jahre jünger als ich. Ich stöhnte leise auf und sagte: "Oh je, da bin ich ja für dich schon eine alte Frau." Er legte ganz laut Protest ein und rief: "Wieso alte Frau? Das stimmt doch gar nicht. Das Alter hat doch gar nichts zu bedeuten. Es spielt gar keine Rolle." Er fuhr auf den Parkplatz des Friedhofs. Ich stieg aus dem Wagen und reichte ihm die Hand. Er sah mir tief in die Augen und streckte den Arm weit aus dem Auto, als wolle er meine Hand nie mehr loslassen. Der Ausdruck in seinen Augen war voller Liebe. Die Augen schillerten im Licht. Er sagte mit ganz sanfter Stimme: "Sei nicht traurig." Zärtlich hielt er meine Hand, bis sie sich ganz langsam löste. Als ich mich umdrehte, rief er mir nach und fragte nach meinem Namen. "Bis bald", flüsterte er noch und dann war er verschwunden. Sei nicht traurig. Dieser Satz klang in mir nach, als ich die weißen Schneeflocken in den grünen Lebensbäumen glitzern sah. Einfache und ehrliche Worte, die aus dem Herzen kamen. So hatte lange niemand mehr mit mir gesprochen. Er hatte nicht gesagt, das Leben müsse weitergehen. Er wollte mir keinen Ruck geben und mich nicht verletzten. Er wollte mich nur trösten. Wieder einmal hatte sich bewiesen, dass die Liebe auf den ersten Blick alles weiß. Er hatte einen ganz wunderbaren Charakter und eine zarte Seele. Als ich vor dem weißen Grabstein meines Mannes stand, da wusste ich, dass seine große Seele mir nur Glück und Liebe wünscht.

Mit einem Ruck war ich wieder in der Gegenwart. Unsere Ente fing auf einmal an zu hoppeln. Sie machte seltsame Geräusche und wurde immer langsamer. Wir hatten kein Benzin mehr. Klaus saß am Steuer und lenkte das Gefährt auf den Nebenstreifen. Klaus nahm den Benzinkanister und machte sich auf den Weg zur nächsten Tankstelle. Er musste drei Kilometer laufen. Es gab nur den Weg an der Bande entlang und Dorothea machte sich Sorgen, denn die Laster kamen ihm gefährlich nah. Dorothea stöhnte: "Der Mond steht im Wassermann" und ich sagte "Ach ja. Unvorhergesehene Ereignisse." Kurze Zeit später kam die Straßenwacht und erkundigte sich, was denn geschehen sei, und dann fuhren sie weiter. Es dauerte eine ganze Weile, aber dann kam Klaus mit einem vollen Benzinkanister und zerzausten Haaren zurück. Unsere Ente zuckelte brav zur nächsten Tankstelle und dann ging es im gewohnten Tempo weiter. Ich wollte nur einen Moment die Augen zumachen, aber dann war ich fest eingeschlafen.

Als ich die bleiernen Lider blinzelnd öffnete, fuhren wir im Kreisverkehr und ich las deutsch klingende Ortsnamen auf den Schildern und war leicht verwirrt. Langsam begriff ich, dass wir schon im Elsaß waren. Wir hatten alle großen Hunger und Dorothea wollte in Straßburg in ein Restaurant gehen. Ich schlief wieder ein und als ich wieder erwachte, waren wir schon in Straßburg. Ich hatte das Gefühl, als hätte ich einen Zeitsprung gemacht. Es war schon Abend geworden und die Stadt versprühte einen Charme und einen Zauber, den ich nicht erwartet hatte. Überall sah man ganz verschachtelt die alten Fachwerkhäuser. Wir gingen über die Brücken der kleinen Kanäle und standen bald staunend vor dem Straßburger Münster. Es war hell beleuchtet und wir legten die Köpfe weit in den Nacken zurück, um all die filigranen Verzierungen und Figuren zu betrachten. Hier hatte schon Goethe staunend gestanden. Bei diesem Anblick füllte ein großer Eindruck seine Seele, der aus tausend harmonierenden Einzelheiten bestand, die er genießen, aber nicht erkennen und erklären konnte. Er erkannte nur den Riesengeist unserer älteren Brüder, hoch und erhaben, den Genius des großen Werkmeisters. Mit diesen Worten hatte er versucht, diese Ergriffenheit zu beschreiben, die den Betrachter packt. Dorothea und Klaus waren vor Ehrfurcht verstummt. Die kleinen Figuren in ihren Nischen erzählten lange Geschichten. Da waren die Propheten und die Apostel und die sieben Jungfrauen zu sehen. Über dem Leichnam Jesu erhob sich der Auferstandene und hielt die Seele der Jungfrau Maria wie eine Porzellanpuppe in der Hand. Der Turm ragte hoch in den Himmel hinein und wirkte bei längerem Betrachten einfach surrealistisch. Dorothea konnte sich von dem Anblick kaum lösen, aber dann meldete sich bei uns allen der Hunger. Wir schlenderten noch eine Weile durch die Stadt und entdeckten immer wieder wunderschöne Gebäude, die uns begeisterten. Aber bald war Dorothea nicht mehr zu halten. Sie steuerte mit großer Zielstrebigkeit auf das nächste Restaurant mit dem Namen Gutenberg zu. Wir sahen nur noch ihren wehenden Mantel und eilten hinterher. Gutenberg hatte in dieser Stadt in aller Heimlichkeit die Kunst des Buchdrucks erfunden. Dieser geniale Mann hatte einige Jahre in Straßburg gelebt und wurde hier verklagt, weil er ein Heiratsversprechen nicht eingehalten hatte. Später hatte man in seiner Werkstatt eine Druckerpresse gefunden, lange bevor das erste mit Lettern gedruckte Gedicht über das Weltgericht und die Bibel in der Öffentlichkeit zu bewundern waren. Gutenberg konnte wohl damals nicht ahnen, dass seine Erfindung eine geistige Revolution auslösen würde. Im vierzehnten Jahrhundert war es unvorstellbar, dass alle Menschen in Europa lesen und schreiben können. In alten Zeiten war ein Buch so wertvoll wie ein Weinberg. Gutenbergs Erfindung machte die Bücher bald erschwinglich und die Alphabetisierung der Menschen begann. Im siebzehnten Jahrhundert wurden die ersten Zeitungen gedruckt. In Straßburg konnte man Gutenberg keiner Zunft zuordnen. In alten Archiven findet man ihn auch unter den Goldschmieden. Ein echter Alchimist, der die Buchstaben in Blei und Zinn gegossen hat, damit der Setzer sie zu immer neuen Worten kombinieren kann. Die Wortfindung bleibt dem Schriftsteller überlassen. Er arbeitet mit dem ewigen Reigen der Buchstaben. Als Dorothea in das Gutenberg stürmte, musste ich mit Liebe an diesen Mann denken. Es war schön, dass man diesen Namen in der Stadt noch ehrte. Das Lokal war klein und wirkte sehr gemütlich. Wir suchten uns einen Eckplatz aus und als ich die Blicke in Ruhe umherschweifen ließ, fiel mir auf, dass dieses Restaurant äußerst gepflegt war. An den Nachbartischen wurde angeregt geplaudert und das Personal war aufmerksam und geduldig. Auf dem Tisch lag ein Prospekt mit Fotos und Zeichnungen von Tomi Ungerer. Er wurde auch in Straßburg geboren und gehört zu den wenigen Künstlern, die sich durch einen unnachahmlichen Humor auszeichnen. Dorothea kam mit dem Kellner ins Gespräch. Er war wirklich sehr freundlich und bald scherzten und lachten wir mit ihm. Als wir die Speisekarte studierten, beschlossen wir, unser restliches Reisegeld zusammenzulegen, um einmal so richtig zu schlemmen. Das ausgiebige Mahl begann mit einer Suppe und Schnecken und endete mit einem herrlichen Eis mit versteckten Zuckereiern. Dorothea brach darüber in Jubelschreie aus und fing an zu lachen. Die versteckten Zuckereier erinnerten sie an ihre Kindheit. Der Kellner freute sich über Dorotheas Entzücken. Zum Abschluss genossen wir eine Tasse Kaffee und rauchten eine Zigarette. Mein Feuerzeug hatte kein Gas mehr und gab die letzte Flamme her. Als wir das Lokal verließen, bat Dorothea den Kellner um Streichhölzer, aber er konnte keine finden. Zum Trost schenkte er ihr eine Kerze. Heiter schlenderten wir zum Auto. Es war schon spät in der Nacht. Wir betrachteten die vielen kleinen Fenster der idyllischen Dachwohnungen. Die sanften Lichter der Stadt tanzten auf dem silbrigen Fluss. Wildgänse flogen schnatternd über die Kanäle hinweg und verschwanden im Dunkel. Diese Stadt hatte etwas von einem Märchen und der Abschied fiel schwer.

Wir fuhren wieder auf die Autobahn und hörten Radio. Ich hatte mich innerlich schon wieder auf die Monotonie des Fahrens eingestellt, als sich ein klopfendes Geräusch bemerkbar machte. Die Ente fing an zu hoppeln. Das Klopfen wurde immer lauter. Diesmal hatten wir noch genug Benzin im Tank. Beunruhigt fuhr Dorothea den Wagen auf den nächsten Parkstreifen und da gab die Ente auch schon ihren Geist auf. Auf einmal war es ganz still. Wir hörten nur das Dröhnen der anderen Wagen auf der Autobahn. Dorothea drehte noch einmal am Zündschlüssel, aber da rührte sich nichts mehr. Im Handschuhfach fanden wir noch eine kleine Taschenlampe. Klaus wagte sich damit in die Dunkelheit, um die Notrufsäule zu suchen. Stöhnend sagte ich zu Dorothea: "Der Mond steht im Wassermann." Dorothea lachte und sagte: "Ach ja, unvorhergesehene Ereignisse. Ich glaube wir wiederholen uns." Klaus hatte die Notrufsäule nach einer Weile gefunden und dann mussten wir noch lange auf den Abschleppwagen warten. Um uns herum war es stockdunkel und das Donnern der vorbeifahrenden Wagen gab einem das Gefühl, als sei man vollends ins Abseits geraten. Im langen Warten lag die Stimmung eines traurigen Verlorenseins. Wir kuschelten uns in warme Decken und machten ein wenig die Augen zu. Wir waren froh, als wir endlich ein Brummen hörten und Scheinwerfer hinter uns hell aufleuchteten. Die Ente wurde mit einer Seilwinde auf die Ladefläche gezogen und wir kletterten in die Fahrkabine. Wir fuhren ein kurzes Stück über die Autobahn und dann ging es über die Dörfer zu einem Ort, der schon etwas größer war. Es dauerte noch eine Weile, bis der ganze Papierkram erledigt war. Endlich gab man uns den Schlüssel für den Leihwagen. Es war ein komfortables Auto und natürlich sehr viel schneller und sehr viel leiser als unsere Ente.

Auf unserer weiteren Rückfahrt gab es nun keine Hindernisse mehr. Kurz vor dem Morgengrauen fuhren wir auf einen Parkplatz, um noch etwas zu schlafen. Ich sehnte mich danach, meine müden Glieder endlich wieder ausstrecken zu können. Bald fuhren wir weiter und erreichten die Grenze. Deutschland erwachte langsam in einem grauen Nebel. Der blasse Sonnenball schwebte leicht wie ein Fesselballon in die Höhe. Im Radio wurde eine Erzählung von Kafka vorgetragen. Ich war ganz glücklich, dass dieser große Geist mit dem Sonnenaufgang durch den Äther schwebte. In Kafkas Sprache entdeckte ich für mich immer ein Heimatgefühl. Seine Sprache zeichnet sich durch eine klassische Schönheit aus und sie ist bis heute modern geblieben. Kafka hatte sehr viel Phantasie, aber er malte seine Bilder mit großer Genauigkeit aus. Das Geheimnisvolle in seinen Geschichten hat uns zu einem ganz neuen Wort geführt. Manche Dinge erscheinen uns jetzt kafkaesk. Ich erzählte Dorothea, dass Kafka schon immer zu meinen großen Vorbildern zählte. Er hatte auch einen großartigen Charakter. Er arbeitete als Jurist für die Prager Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt und dort engagierte er sich sehr stark, um Unfälle am Arbeitsplatz zu verhindern. Er trat für die Rechte der Armen und Schwachen ein und seine Freunde konnten sich immer auf ihn verlassen. Er lieh seinen Arbeitskollegen Geld, wenn sie in Not geraten waren und wollte es gar nicht zurück haben. Dorothea konnte meine Vorliebe für Kafka gut verstehen. Über seine Beamtenlaufbahn hatte sie nichts gewusst. Ich sagte: "Er hat einmal über die Arbeiter gesagt: "Wie bescheiden diese Menschen sind, sie kommen zu uns bitten. Statt die Anstalt zu stürmen und alles kurz und klein zu schlagen." Dieser anarchistisch klingende Satz gefiel Dorothea und sie musste laut lachen. Ich sagte: "Kafkas Arbeit wurde von seinen Vorgesetzten sehr geschätzt. Er war sehr beliebt, aber die Arbeit im Büro war ihm ein Schrecken, weil es ihn um eines elenden Aktenstückes willen an der literarischen Arbeit hinderte. So hat er sich ausgedrückt. Das kann ich so gut verstehen. Ich habe auch viele Jahre als Sekretärin gearbeitet und wollte doch immer nur schreiben." Dorothea nickte und sagte "Ach ja, Literaten haben es schwer." Wir lauschten weiter der Stimme aus dem Radio, die ich nun wieder verstehen konnte. In Frankreich war sie nur ein süßes Säuseln gewesen, da konnte mein Verstand nur immer wenige Wortfetzen auffangen. Klaus war inzwischen auf dem Rücksitz tief eingeschlafen.

In den späten Nachmittagsstunden erreichten wir Göttingen. Hier hatte sich Dorothea in einem Vorort eine kleine Studentenbude ganz neu eingerichtet. Sie wohnte in einem schönen, alten Haus am Ende einer kleinen Dorfstraße. Dahinter lag ein alter Friedhof. Dorothea stöhnte ein wenig, weil sie den Antrittsbesuch an der Universität wegen der Autopanne versäumt hatte. Wir blieben noch zwei Tage bei Dorothea. Am Wochenende wollte sie mich nach Hamburg bringen und mit Klaus dann noch in das Wendland fahren. Dort wohnte unser Naturfreak und erkundete jeden Tag mit seinem Fahrrad die Landschaft. Am nächsten Nachmittag fuhren wir mit Dorothea nach Göttingen in die Altstadt. Wir besuchten den Gänseliesel-Brunnen. Die Gänseliesel ist das Wahrzeichen der Stadt. Sie soll den Studenten Glück bringen. Die Studenten bringen ihr Blumen und jeder frisch promovierte Doktor muss sie küssen. Die kleine Gänsehüterin soll die Studenten daran erinnern, nicht hochmütig zu werden. Die Universität in Göttingen hatte große Köpfe hervorgebracht. Die Studentenbude von Bismarck gab es in dieser Stadt auch zu besichtigen. Ein schönes, weißes Künstlerhaus war früher das Wohnhaus von Georg Christoph Lichtenberg gewesen, ein Physiker, Mathematiker und Philosoph, den man in dieser Stadt auch mit einem Denkmal ehrte. Auch in dieser Stadt gab es eine Straße mit alten Fachwerkhäusern. Eines der Häuser hatte einem Weber gehört und er hatte ein Weberschiffchen und einen Weberkamm hineinschnitzen lassen. Es gab viele kleine Kirchen in der Stadt. Die Paulinenkirche war früher ein Wallfahrtsort gewesen, weil sie die Reliquien des Thomas von Aquin beherbergte. Am zweiten Tag entdeckten wir all die schönen Studentenkneipen in der Stadt. Aber dann war endgültig die Zeit des Abschieds gekommen.

Die ersten Tage in Hamburg waren grau und ich dachte oft an meine Freunde. Ich saß wieder vor dem Computer und schrieb manchmal bis tief in die Nacht hinein. Immer wenn ich die Arbeit für kurze Zeit unterbrach, um mir auf der anderen Straßenseite in der Tankstelle noch etwas Proviant zu besorgen, bediente dort dieser ungeheuer korpulente Typ mit dem Cowboyhut. In dem kleinen Laden erklang dann immer Countrymusic. Als die Musik einmal nicht zu hören war, und ich ihn fragte, warum er denn seine schöne Musik nicht spiele, antwortete er: " Kommt noch. Immer langsam inne Gänge komm." Er war ein echter Cowboy und ein waschechter Hamburger. Auf der anderen Straßenseite leuchte mir immer die grelle Neonreklame "Venice Beach" in die Augen. Dieser Schriftzug hing über einem Laden für Surf-Artikel. In Venice Beach hatte Jim Morrison gelebt und dort waren ihm die ersten Songs eingefallen. Ein kleines Venedig in der Nähe von Los Angeles. Wie gern hätte ich diesen Ort einmal gesehen. Auf meinen kurzen, nächtlichen Ausflügen überkam mich immer wieder das Fernweh. Aber für mich stand zunächst nur ein unangenehmer Termin beim Kieferchirurgen an. Mit unguten Gefühlen machte ich mich an einem Freitag auf den Weg zum Bahnhof. Mein letzter Besuch beim Kieferchirurgen lag schon zehn Jahre zurück, aber er war mir bis heute traumatisch im Gedächtnis geblieben. Mein halber Oberkiefer war vereitert gewesen und die Spritzen hatten nicht gewirkt. Ich hörte wieder das Surren und Brummen des Bohrers und den Hilferuf des Chirurgen an den Kollegen: "Gleich bin ich durch." Ich wollte diesen Tag nur einfach ganz schnell hinter mich bringen.

Direkt vor dem Eingangsweg zum Bahnhof stand Armins Auto. Als er mich sah, streckte er den Arm aus dem Fenster und hielt mit die Hand entgegen. Er sagte: "Wir haben uns ja soo lange nicht gesehen." Er zog das O mit einem bedauernden Tonfall in die Länge. Als ich meine Hand in seine legte, begann er sie ganz zärtlich zu streicheln. Er sah mir tief in die Augen und erzählte mir, dass er die ganze Zeit viel zu tun gehabt hätte und immer unterwegs gewesen sei. Ich erzählte ihm von meiner Reise nach Frankreich, während er mir immer noch intensiv in die Augen blickte und unablässig meine Hand streichelte. Das Streicheln ging mir durch den ganzen Körper. In diesem Moment hatte ich den Kieferchirurgen schon ganz vergessen. Am liebsten hätte ich seine Hand in alle Ewigkeit nicht mehr losgelassen und er streichelte sie auch unablässig weiter. Wir sahen uns bald nur noch zärtlich in die Augen und endlich entdeckte ich, dass sie braun waren. Sanfte Rehaugen mit dem warmen Glanz des Bernsteins. Diese Augen weckten in mir ein tiefes Vertrauen, weil sie mich so sehr an Wolfgangs Augen erinnerten. Er blickte nur einen Moment zu Seite, das Licht traf die Augen und da waren sie für ein paar Sekunden blau. Da war wieder dieses Leuchten in den Augen und das Streicheln der Hände wurde intensiver. In diesem Moment kam mir das Wort Hoffnung in den Sinn. Es erhob sich wie ein Phoenix aus der Asche und breitete unsichtbare Schwingen aus. Das Wort Hoffnung begann sich zu entfalten und schwebte über mir im ganzen Raum, um Himmel und Erde zu verbinden. Ich war auf einmal wieder in Taizé. In Armins aufleuchtenden Sekundenblick erkannte ich die Augen des jungen Mannes wieder, der das Wort Hoffnung dort so lebendig gemacht hatte. Das Wort Hoffnung wird in Zärtlichkeit geboren. Das Wort Hoffnung ist die Schwester der Liebe. Das Wort Hoffnung ist wie eine Tür, durch die man gehen kann; ein Notausgang, wenn der Hass uns verfolgt. Das Wort Hoffnung hilft uns auf, wenn wir am Boden liegen. Wenn uns jemand Hoffnung macht, dann geht es weiter. Das Wort Hoffnung ist wie ein Zündschlüssel, damit der Lebensmotor wieder anspringt. Das Wort Hoffnung liegt immer in der Zukunft und hilft uns immer, neue Ziele zu setzten. Aber die größte Hoffnung des Menschen liegt im Frieden, wenn wir all unsere Ziele erreicht haben.