Sie steht bei ihm in der Küche. Tatsächlich! Ein Motorrad in der Küche. Sie darf bei ihm überwintern. Der heiße Ofen darf sich am Ofen wärmen. In der Garage würde sie Rost ansetzen. Das muß man sich mal vorstellen: Diese blitzende und blinkende Lady mit einem Rostfleck! Es wäre, als würde sie bluten. Außerdem muß er an ihr noch eine kleine Reparatur vornehmen. Ein kleiner, aber wichtiger Eingriff. Nichts Ernstes. Er hat sie mit einem Tuch abgedeckt. Es ist nicht grün (wie auf dem Operationstisch), sondern altrosa. Eigentlich müßte er sie verkaufen, aber er kann es nicht. Er hängt an ihr. Wer läßt sich denn scheiden, nur weil im Moment die Finanzen nicht stimmen. Allein der Klang ihres Namens! Vornehm und dennoch verwegen.
Bill Harley und die Brüder Davidson haben 1903 in einem kleinen Schuppen angefangen. Ihren Namen haben sie über die Tür gepinselt. Das erste Motorrad hieß Silent Grey Fellow. Ein stiller, grauer Geselle. Der Name erinnert schon an den Steppenwolf. Jahresproduktion: drei Motorräder. Und nun kennt sie jeder. Sie ist einzigartig. Vorne ein wenig ausladend mit Wespentaille. Jedenfalls klingt der Name Harley verlockend. Er klingt nach einer Frau mit Lockenkopf und Humor, die jeden um den Finger wickelt. Aus diesem Grund hat er auch seine Hündin Harley genannt. Ein besserer Name sei ihm nicht eingefallen, meint er. Jedenfalls liebt er seinen Hund über alles. Ein Motorrad kann man auch lieben. Mein Herz hängt jetzt auch schon am Blech.
Im Sommer stand sie in seiner Garage und er hatte sie unter einer schweren Plane versteckt. Ich durfte sie sehen. Das darf auch nicht jeder. Ich staunte, weil sie in der Dunkelheit kleine, blitzende Sterne warf. Blank polierter Chrom im Schwarz. Ich fand sie einfach ästhetisch. Ich durfte auf ihr Platz nehmen. Diese zarten Fußpedale hatten keine Schramme. Man muß wirklich sanft mit ihr umgehen. Man darf sich in ihr zurücklehnen. Weit zurücklehnen. Sie liebt diese Haltung. Sie liebt die Ruhe. Sie liebt die Meditation. Sie will, daß die Landschaft ruhig an dir vorbeizieht. Du darfst den Indian Summer genießen: die leuchtenden Farben der Bäume im Herbst. Du fühlst dich on the road. Er sagte: "Du spürst den Wind in den Haaren, und das ist so schön". Die Harley macht ihn zum Poeten. Ich liebe es, wenn er mir von ihr erzählt. Ich hatte Respekt vor dieser Dame. Und dann dieses Gefühl, als hätte ich mich in eine Frau verliebt, als ich sie bestieg. Ein ganz neues und seltsames Gefühl. Ich wollte sie nicht verletzen. Bloß keinen Kratzer mit den Schuhen machen. Dieses sich öffnen, wenn man den Lenker berührt! Sich sanft nach hinten und nach vorne beugen. Sie ist wirklich grazil und sensibel. Sie ist tolerant und treibt dich nicht an. Bei ihr gibt es keinen Geschwindigkeitsrausch und sie führt dich nicht an die Grenze. Sie ist eben keine Honda und keine BMW, meint er. Eine Honda Bol d`Or hat er auch. Aber an die Harley kommt sie nicht ran. Seine Harley ist schon eine älter Dame. Eine Panhead. Ein Oldtimer. Ein Sammlerstück. Eine echte Persönlichkeit. Er nimmt das ganz genau. Er mag reife Frauen. Er pflegt und umhegt sie. Aus diesem Grund habe ich mich wohl in ihn verliebt. Er poliert die Seele und möbelt sie auf. Mit der Harley kann man sich auch so schön in die Kurven legen. Aber langsam. Das ist auch ein schönes Gefühl, sagt er.
Weiß der Teufel, warum die Rocker sie so lieben. Den Highway to Hell gibt es bei ihr nicht. Sie hat nur hundertdreißig Kilometer in der Stunde drauf. Wahrscheinlich mögen sie ihre Oberweite. Andere Motorräder sind eher männlich. Rasend im Wettbewerb. Die Pose auf der Harley macht den Rocker zum Kerl. Sie mag nur die lässige Haltung. Außerdem muß man bei ihr die Träume vom wilden Leben nicht in die Schublade packen, meint er. Die Harley ist durch einen Film zur Legende geworden: Easy Rider! Er hat damals den Film gesehen und mußte dann die Harley haben. Der Film hat die Harley berühmt gemacht. Sie ist eine tolle Schauspielerin. Ihre Filmpartner Dennis Hopper und Peter Fonda haben sich in sie verliebt. Mit ihr konnte man der Welt einmal zeigen, was ein Roadmovie ist! Und dann die Musik von Steppenwolf: Born to be wild! Gleich am Anfang kommen diese hammerharten Gitarrenriffs. Du hörst das Schwermetall und hebst ab. Die Gruppe hat sich nach dem Roman "Steppenwolf" von Hermann Hesse benannt: "Anarchistische Abendunterhaltung. Nicht für jedermann. Nur für Verrückte". Obwohl: Hermann Hesse macht im Magischen Theater Hochjagd auf Automobile! Hermann Hesse hat alles Motorisierte und die Technik gehaßt. Insbesondere das Radio. Man bedenke: Damals rauschte Mozart durch die Störsender. Mozart ist bei Hesse ein Unsterblicher, denn der wahre Genius ist heiter. Und die Probleme mit der Umwelt und die Gehirnwäsche mit der Werbung hat er schon damals erahnt. Aber den Aufbruch, den hat er gewollt. Der Steppenwolf ist ein Pamphlet gegen die Spießbürger. Der Steppenwolf war das Kultbuch der Hippies. Nach der Uraufführung von Easy Rider wurden viele Hippies Biker. In der Musik war dann auch Heavy Metal angesagt. Born to be wild: " Get your motor running. Head out on the highway. Looking for adventure. And whatever comes our way. "Wenn man die Musik hört, dann juckt es sofort in den Beinen. Das Herz schlägt schneller. Man will auf die Harley und man will sofort raus. Egal wohin. Freiheitsdurst und Freiheitsdrang.
Dieses Gefühl hat er oft. Ich kann das verstehen. Für eine Weile mal alles vergessen. Mal alles an sich vorbeifliegen lassen. Aber man darf die Harley niemals allein lassen. Wenn man sie am Straßenrand stehen läßt, dann ist sie weg. Alle sind scharf auf sie. Die Männer sind hinter ihr her, meint er. Also hütet man sie wie den eigenen Augapfel. Er macht es. Schon lange. Sie steht bei ihm in der Küche. Trotzdem ist es dort gemütlich. Es ist sehr gemütlich. Wir hören Musik, trinken Champagner und sehen uns Fotos an. Ein glücklicher Moment in meinem Leben, ganz unerwartet. Ich sitze auf dem Küchenstuhl und entdecke ein Bild über dem Kühlschrank: Ein Wolf heult den Mond an. Er liebt Wölfe. Ich auch. Er sieht mich mit seinen großen, braunen Augen an. Sie glänzen und sind so heiter. Ich betrachte die vollen, sinnlichen Lippen. Die grauen Locken umrahmen das klare Gesicht und machen ihn interessant. Er strahlt Wärme aus. Ich habe das Gefühl, daß ich die Männer immer besser verstehe. Ich bin eine Frau und in mir steckt auch ein Mann. Das hat der Tiefenpsychologe C.G. Jung schon immer gewußt: Die Seele der Frau ist männlich. Im Mann steckt die Frau. Je älter wir werden, desto deutlicher wird es. Das ist dann die Reife im Laufe des Lebens: Die Geschlechter kommen sich immer näher. Vorurteile abzulegen ist etwas Schönes. Das Fremde ist dann nicht mehr fremd. Die Trennwand zwischen Mann und Frau einfach abreißen! Ich habe auf einmal ganz neue Träume: Ich möchte einmal im Sommer mit der Harley ans Meer. Dann muß ich mich anlehnen. Seine Hüfte umgreifen. Seinen Bewegungen nachgeben. Mich einfühlen, sagt er. Ich war noch nie auf dem Sozius. Diesen Traum will er mir erfüllen. Zum Abschied sagt er zu mir: "Eigentlich interessiere ich mich nicht für Motorräder. Ich interessiere mich nur für die Menschen." Das weiß ich. Ach Ja, die Harley ist so erotisch!