Romeo und Julia auf der Straße des Regenbogens

Romeo und Julia

Sommer 1969. Ich fuhr mit der Rolltreppe hinauf ins Licht. Es blendete mich. Mitten in der Sonne stand Jutta mit ihren knallroten Haaren. Das Feuer empfing mich. Fegefeuer der Eifersucht! Sie fuhr jeden Abend mit ihm im gleichen Zug. Sie hatte ihn angesprochen, das wußte ich. Er war einmal mit ihr spazieren gegangen, das hatte er mir erzählt. Er fand sie langweilig, das hatte er mir im Vertrauen zugeflüstert, als sie unseren ersten gemeinsamen Weg kreuzte und rot anlief, als sie ihn hastig im Vorbeigehen grüßte und die Augen senkte. Er hatte ihr von seiner neuen Freundin erzählt. Jetzt wußte sie, daß ich die neue Freundin war! Ich hatte sie schon oft in der Diskothek gesehen. Ihre beste Freundin sah aus wie meine beste Freundin. Jutta war hübsch. Sie sah mir entfernt ähnlich. Sie war auch so schlank und zierlich, trug enge Kordhosen, meine war rot und ihre war grün. Sie hatte auch einen Tabaksbeutel am Gürtel hängen, trug Hosenstiefel und Polohemden, genau wie ich. Ihr kurzes, rotes Feuerhaar tönte sie mit Henna aus Indien. Meine Haare hatte ich schwarz getönt, kurz gestuft, im Nacken ganz lang zusammenlaufend wie eine Rabenfeder. Ich blinzelte gegen das Licht. High noon!

Wir fauchten uns wie Raubkatzen an, aber niemand konnte das hören. In meinem Kopf hörte ich plötzlich den Song "Summer In The City" und ich hörte die Stimme: "Cool down". Die Gitarre machte Power. Jutta schleuderte Blitze aus den Augen und ich schleuderte sie zurück. Sie rannte plötzlich los und verschwand im Dunkel des Hauptbahnhofs. Ich spielte immer noch mit meinem unsichtbaren Revolver an der Hüfte. In mir war ein Aufruhr. Ich war niemals zuvor  so grundlos eifersüchtig gewesen. Ich dachte an mein Revier. Der ganze Hauptbahnhof war plötzlich mein Revier. Niemand durfte da einbrechen. Niemand mein Glück zerstören. Ich entdeckte eine ganz wilde Natur in mir. Ich entdeckte die Furie. So nannte meine Oma das. Wenn sie dieses Wort benutzte, dann war alles außer Rand und Band. Ihr wildes Nomadenblut kochte in mir. Meine Oma hat noch im hohen Alter auf Tischen getanzt!

Einen wild gewordenen Handfeger, so nannte meine andere Oma das. Ihr germanisches Raubritterblut erhitzte sich nur im Plattdeutschen. Ich hörte ihre beschwichtigende Stimme in mir: "Immer langsam mit den jungen Pferden, min Deern!" Das schwere Bauernblut meines Großvaters brachte mich endlich auf den Boden der Tatsachen zurück. Lässig wie ein Cowboy schlenderte ich in die Hallen des Hauptbahnhofs. Mein anderer Großvater war ein Träumer gewesen, ein Mystiker, ein Idealist und ein engagierter Sozialarbeiter. Er war schon lange tot. Ich hatte ihn niemals gesehen, kannte nur eine Fotografie von ihm. Auf diesem Foto hatte er einen verträumten Blick. In ihm sah ich mich selbst. Mit ihm fühlte ich mich am meisten verwandt. Er war die ganz große Liebe meiner raubritterlichen Großmutter gewesen. Er starb ganz jung an Tuberkulose. Sie ist niemals darüber hinweggekommen. Sie hat nie wieder jemanden so geliebt. Ihr Leid zeigte sich in launischer Putzwut, dennoch blieb sie eine Stoikerin.

Im Ansturm der Gefühle entdeckte ich den Geist der Ahnen und die unsichtbaren Waffen, die sie mir mit auf den Weg gegeben hatten: Temperament, Schlagfertigkeit, Ausdauer und Tiefgang! Aber alles hatte auch seine Schattenseiten. Woher nur diese rasende Eifersucht? Mangel an Einsicht und Lebenserfahrung!

Ich dachte, daß dieses ganze Leben ein Film sei, in dem jeder die Hauptrolle spielte. Das Leben war nur ein Traum, den man ernst nehmen sollte, aber auch nicht zu ernst. Nur die Liebe war wirklich eine Ausnahme. Man mußte sie ernst nehmen. Die Liebe war mehr als ein Traum. Nur die Liebe war ein echtes und großes und schönes Drama. Alles andere war nur ein Possenspiel.

Reisende mit schweren Koffern kamen mir entgegen und winkten nach einem Taxi. Zwei englische Freaks, langhaarig, marmorierte Hemden, mit Perlenketten und Seidentüchern geschmückt, hockten auf ihren Schlaf- und Rucksäcken in der Wandelhalle, betrachteten das Treiben um sich herum, als säßen sie am Ufer des Ganges. Beneidenswert! Eine Gruppe von Schwaben sammelte mit schwerem Akzent schon erste Eindrücke vom hohen Norden und suchte den Ausgang zum Reisebus. Hafenstadt Hamburg! Tor zur Welt! Ein ondulierter Stricher mit Sonnenbrille schlich mit einem weiblichen Hüftschwung und theatralischer Ballettänzer-Mimik aus der Klappe und hüpfte aufgeregt am Bahnhofsaufseher vorbei, der gerade damit beschäftigt war, zwei arme Penner aus ihrem Alkoholrausch zu wecken und sie aus ihrem Nest zu vertreiben, daß sie sich aus Zeitungsblättern und Plastiktüten gebaut hatten. Entsetzt griffen sie nach den leeren Weinflaschen und das laute Klirren in der großen Halle zog die Neugierigen an. Ich lief schnell an den Schließfächern vorbei und pirschte mich an, zurück zu den Gleisen, wie ein Indianer auf dem Kriegspfad. Ich wußte, daß Jutta irgendwo im Hinterhalt lauerte.

Ich beugte mich weit über das Geländer, unter mir vibrierte der Boden von den einfahrenden und abfahrenden Zügen. Sein Zug hatte Verspätung. Jutta hatte sich irgendwo in Richtung Einkaufspassage im ewigen Heer der einkaufenden Bevölkerung versteckt. Mein Instinkt sagte mir das. Ich war ganz sicher. Eine einzige Völkerwanderung strömte immer in die gleiche Richtung. Ein fetter Schwarm Fische ging immer ins Netz. Die grauen Alltagsmenschen fühlten sich von den großen Konsumtempeln magisch angezogen. Zwischen all diesen Stecknadelköpfen war Jutta in den Schatten getaucht. Immer wieder blickte ich auf die große Bahnhofsuhr. Der große Zeiger wollte sich einfach nicht bewegen. Wann würde ich endlich seine große Gestalt da unten herausragen sehen? Mein Herz klopfte voller Erwartung. Ich würde ihn immer sofort in der größten Volksmenge entdecken. Sein langes Haar glänzte wie Seide. Seine Bewegungen waren geschmeidig. Seine Haut leuchtete. Seine Schritte machten die Erde magnetisch. Er verströmte einen wunderbaren Duft. Sein ganzer Körper war von Licht umgeben. Ich war sicher, daß Jutta ihn auch so wahrnehmen konnte. Viele Frauen konnten es. Ich spürte, daß sie seinen Magnetismus spürten. Ich sah das Leuchten in ihren Augen, wenn sie ihm begegneten. Dennoch war meine Liebe einzigartig. Niemand liebte ihn so wie ich. Nicht mit dieser Kraft. Ich hätte mein Leben für ihn gegeben, auf der Stelle und zu jeder Zeit.

Endlich rollte der Zug ein. Der Boden unter meinen Füßen begann zu beben. Die Räder ächzten und quietschten. Die Leute stiegen aus und meine Augen suchten ihn. Das Blut stieg mir in den Kopf, als ich ihn erblickte. Am liebsten hätte ich vor Freude Indianergeheul angestimmt. Ich hatte nicht bemerkt, daß Jutta neben mir stand. Sie sah ihn die Rolltreppe hinauffahren, blickte mich an, ballte die Faust und sagte mit eisiger Stimme: "Du wirst noch das Geländer herunterfallen, wenn du hier so herumturnst und nicht aufpaßt." Ich preßte die Lippen zusammen, richtete mich auf und zischte: "Hast du Angst, daß ich jemandem in die Arme falle? Ich bin gut im Turnen. Ich kann noch ganz andere Sachen." Ich hatte den Mörderblick. Wütend dampfte sie ab.

Er legte den Arm sanft um meine Schultern und sagte: "Habe ich da eben nicht Jutta gesehen? Stand sie nicht neben dir? Warum läuft sie denn so?" Ich zuckte die Achseln. Er lachte sein kleines, helles Lachen. Ich spürte seine Hand, die meinen Arm ganz zart streichelte. Seine Hände waren lang und schmal und schön. Diese Hände berührten alles sanft und mit Ehrfurcht. Das Streicheln ging mir durch und durch, es rieselte in den Nacken und das Nomadenblut pulsierte. Hoffentlich würde er die Hand dort lassen. Ich wußte nicht, was ich mehr liebte, seine Hände oder die Augen. Romantische, tiefe, warme Augen, eine hellbraune Unendlichkeit im Bernsteinlicht. Wenn er müde war, dann waren seine Augen plötzlich so grün wie ein stiller Bergsee. Wenn er seinen Überzeugungen Ausdruck verleihen wollte, dann brannte in seinen Augen ein goldenes Feuerlicht. Seine Wimpern waren tiefschwarz und glänzten. Ich beneidete ihn darum. Er brauchte keine Wimperntusche. Hatte die Welt jemals so schöne  Lippen gesehen? Oberlippe und Unterlippe waren gleich groß. Dieser Mund war nicht zu breit und nicht zu schmal. Als hätte jemand mit dem Lippenkonturenstift eine ganz feine Herzlinie um die Oberlippe gemalt, ein Meister wie Leonardo da Vinci. Kein böses Wort war bisher über diese Lippen gekommen.

Ich bat ihn, einen Moment stehen zu bleiben. Ich sagte, er hätte da ein wenig Staub im Gesicht, wohl vom Ruß des Bahnhofs. Ich nahm ein Taschentuch und wischte vorsichtig den kleinen Fleck unter dem Auge weg. Er hielt ganz still und schloß die Augen. Als er die Augen wieder öffnete, sagte er ganz leise: "Bleibe noch stehen. Dein Seidenschal hängt schief." Er knotete ihn ganz langsam auf, nahm die beiden Enden des Tuches und zog sie ganz sanft auf die gleiche Länge, blickte mir tief in die Augen, zog mich mit dem Schal ganz langsam zu sich heran, dann zwei stolze und bedächtige Schritte eines Flamencotänzers, voller Eleganz, begleitet von einer spanischen Gitarre, die nur wir zwei hören konnten. Ich folgte ihm wie hypnotisiert, spürte die hochhackigen Flamencoschuhe an meinen Füßen, raschelte mit dem unsichtbaren Rüschenrock. Er blieb stehen und lächelte, knotete sanft und langsam den Seidenschal wieder zu und  dabei streichelten seine Augen mein Gesicht. In diesem Augenblick wußte ich, daß er alles verstanden hatte, daß er mich auch so zärtlich liebte. In diesem Augenblick versank die Welt um mich.

Die Welt holte uns zurück, riß uns aus diesem Moment, als wolle sie ihn nicht wahrhaben, als wolle sie ihn sich aneignen. Ein Fotograf beschoß uns mit seinem Blitzlichtgewitter. Er rannte mit der Kamera aufgeregt um uns herum und rief entschuldigend: "Es tut mir leid, aber diesen Moment mußte ich einfangen. Das gibt ein schönes Foto. Romeo und Julia mitten im Hauptbahnhof. Was für ein Ausdruck der Zärtlichkeit. Frisch verliebt, was? Aber mächtig, was? Ganz ehrlich: diesen Ausdruck in den Gesichtern habe ich immer gesucht. Wenn ihr euch nur hättet sehen können! So was Hübsches! Kommt in die Zeitung. Ich schicke euch einen Abzug." Gleich darauf war er verschwunden.

Dieses Foto wäre vielleicht eine kleine Entschädigung gewesen für die Zerstörung des Augenblicks, ein schönes Andenken, dachte ich. Die dumme Welt platzt in die heiligsten Momente. Wolfgang sah ihm zornig nach und sagte: "Er hat sich nicht einmal die Mühe gemacht, unsere Adresse aufzuschreiben. An wen will er denn den Abzug schicken?  Und den Namen der Zeitung kennen wir auch nicht."

Er legte wieder den Arm um meine Schultern und wir gingen weiter zum hinteren Ausgang des Bahnhofs. Die Sonne schien uns ins Gesicht. Es war heiß. Er lachte und sagte: "Dieser Fotograf hat wirklich ein gutes Foto gemacht. Er versteht sein Handwerk. Schade nur, daß er ein Elefant im Porzellanladen ist." "Journaille mit Instinkt", brummte ich wütend. Er lachte wieder. Ich wagte nicht, seine schmalen Hüften zu umschlingen. Seine Haut war nicht weiß, sondern immer ganz leicht gebräunt. Man konnte ihn nicht einordnen. Viele Leute hielten ihn für einen Amerikaner und sprachen ihn auf englisch an, wenn sie fremd in der Stadt waren und nach dem Weg fragen wollten, weil sie dachten, er käme direkt aus Los Angeles. In Wahrheit kam er wohl einfach von einem anderen Planeten. Sein Rücken war in Schulterhöhe ein wenig gebeugt. Wenn er diesen kleinen Makel nicht gehabt hätte, dann wäre er einfach zu schön und zu perfekt gewesen. Die leichte Beugung seines Rückens gab ihm etwas Einzigartiges, etwas Verletzbares bei seiner Körpergröße, die  anderen Männern großen Respekt einflößte. Ich spürte die Muskeln seines zarten Armes. Hinter der Zartheit war Kraft. Er hatte oft die Hände in den Hosentaschen, ging langsam und geschmeidig wie ein Tiger und schlich wie ein Wolf um die Ecken. Er hatte immer seine Antennen ausgefahren, hatte einen wachen Blick, immer ein wenig auf der Lauer, als wäre er ein Indianer.

Ich beachtete die Menschen auf der Straße nicht mehr. Ich schmiegte meinen Kopf an seine Schulter. Ich spürte seinen Atem an meiner Schläfe und einen Hauch von einem Kuß, ein kurzes Streicheln über mein Haar. Wir schlenderten den Glockengießerwall entlang. Er wollte zur Kunsthalle gehen und sich dort mit mir auf die Treppen setzen. Er sagte: "Wir setzen uns auf diesen Platz. Siehst du diesen wunderschönen Baum dort bei der Reiterstatue? Es ist ein guter Ort. Es ist einer von den sieben heiligen Plätzen in dieser Stadt. Dieser aber ist der heiligste. Er ist von einem Zauberkreis umgeben. Dort sind wir auf der alten Alsterhöhe. Es ist ein würdiger Platz zum kennenlernen, denn sie nennen diesen Rundbau eine Würdeformel. Die Mauern bestehen aus Muschelkalk. Die Venus hat ihre Muscheln für diesen Bau geopfert.  Hinter den großen Fenstern siehst du die Menschen im Kreis hinter den sechs Säulen sitzen. Sie denken über die Kunst nach. In diesem Gebäude sind nur die guten und großen Gedanken zu Hause. Wir können den ganzen Tag dort sitzen und niemand wird uns stören. Wir können den Bahnhof von fern betrachten. Willst du mir nicht etwas aus deinem Leben erzählen?"

Ich fragte erstaunt: "Woher kennst du die sieben heiligen Orte dieser Stadt? Woher weißt du das alles? Du bist ein großartiger Reiseführer. Erzähle mir mehr davon. Dieser Ort ist wirklich schön. Ich kenne ihn und ich mochte ihn schon immer, habe aber noch niemals auf der Treppe gesessen. Mit dir will ich gern hier sitzen. Einen schöneren Tag kann ich mir nicht vorstellen. Ich werde dann diesen Ort niemals vergessen. Meine Kunstlehrerin hat uns oft hierher geführt. Wir durften hier die Originale von Andy Warhol betrachten, noch bevor sie ausgestellt wurden. Sie waren in einem Seitenraum versteckt. Ein freundlicher Mann hat sie extra für uns ausgepackt. Meine Kunstlehrerin kennt die großartigsten Leute, sie ist eine tolle Frau! Sie brachte uns auch in das Haus von Emil Nolde, denn sie war mit seiner Witwe befreundet. Dort haben wir  auch das Triptychon und andere seltene Bilder von ihm gesehen. Es war, als wäre Emil Nolde in diesem Haus noch anwesend, als würde er nur ein Nickerchen im Nebenzimmer halten. Es war großartig dort. Die Nazis hielten seine Werke für entartete Kunst. Allein diese Wortwahl sagt doch schon etwas über deren perverses Denken aus. Wie kann Kunst entarten? Kunst heißt auf englisch art und wenn sie entartet, dann entfaltet sie sich. Die Nazis hielten Nolde für verrückt, weil er den Himmel nicht immer nur blau gesehen hat. Für einige Leute ist Phantasie schon Wahnsinn. Nichts darf vom Gewöhnlichen abweichen. Daran verzweifelt meine Kunstlehrerin auch. Ihr Kunstunterricht ist eine einzige Freude. Sie bringt immer eine Menge Utensilien mit. Im Moment arbeiten wir mit Tinte und Stahlfedern. Wir dürfen so lange an einem Thema arbeiten, wie wir nur wollen. Meine Bilder gefallen ihr und sie  will mich immer sanft dazu überreden, daß ich Kunst studiere. Ich weiß aber, daß ich nicht genug Talent habe. Ich liebe auch die modernen Kunstwerke. Sie durchkreuzen die Gedanken der Politiker. Sieh nur, auf dem Vorplatz steht auch der kleine Zyklop. Er steht noch nicht lange da. Er sieht eher aus wie ein untersetztes Stahlpferd, das sich Flügel wünscht und Pegasus werden will. Er hat Blitze und Donnerkeile für Zeus im Sinn. Er will die Welt verändern. Ein kleiner Stahlschelm. Ich liebe die Mythologie der alten Griechen."

Wolfgang sah mich erstaunt an: "Warum hörst du nicht auf deine Lehrerin? Du hast bestimmt genug Talent. Ich glaube, du hast Phantasie und Vorstellungskraft. Wenn ich dir so zuhöre, dann höre ich deine Begeisterung für die Kunst. Das gefällt mir. Ja, ich glaube sogar, daß du eine abstrakte Denkerin bist. Das ist selten bei einem Menschen. Dir fehlt nur der Mut. Du hast alles, was eine Künstlerseele braucht. Ich hätte auch gern eine gute Kunstlehrerin gehabt. In der Volksschule durfte ich meine Bilder nie zu Ende malen. Jedes Bild mußte immer innerhalb einer Stunde fertig sein. Meine Kunstlehrerin war eine Beamtenseele. Ich sagte ihr meine Meinung: "Ein Bild ist fertig, wenn es fertig ist! Es braucht seine Zeit. Basta!" Sie reagierte nicht auf meine Worte und das machte mich unglaublich wütend. Weißt du, ein Lehrer muß auch ein guter Pädagoge sein. Die meisten Lehrer sind es nicht. Ich bekam immer schlechte Zensuren, obwohl ich eigentlich gut malen konnte. Um ehrlich zu sein: Ich war besessen vom Malen und bin es immer noch. Mein ganzes Zimmer ist voller Bilder. Eines Tages habe ich aus lauter Wut mein Bild schwarz übermalt. Ich gab es ab und nannte es Hamburg bei Nacht während des Stromausfalls. Zwischen mir und meiner Lehrerin wurde es dann zappenduster. Du kannst dir vorstellen, was ich dann für eine Zensur in Kunst bekommen habe."

Ich lachte laut auf und er lachte mit, dann sagte er: "Ich habe übrigens einen ganz neuen Künstler entdeckt. Er malt Maschinenmenschen. Er malt ihr Innerstes.  Diese Bilder sind sehr surrealistisch. Die Maschinenmenschen erinnern an Aliens. Man kann diese Bilder als Poster kaufen. Ich werde sie dir einmal zeigen, und wenn sie dir gefallen, dann schenke ich dir eines. Dann kannst du dir so einen Maschinenmenschen an die Wand hängen und damit schreckst du sie alle ab! Alle Maschinenmenschen und alle Kunstbanausen! Wer weiß, vielleicht haben wir ja einmal eine gemeinsame Wohnung, dann hängen wir zuerst dieses Poster an die Wand."

Er machte eine nachdenkliche Pause und sagte dann verträumt: "Ich könnte mir das direkt vorstellen. Mit dir könnte ich es vielleicht aushalten. So etwas habe ich noch nie gedacht. Ich bin ein Einzelgänger und ein Einzelkämpfer. Mit mir ist es nicht bequem, das mußt du wissen.  Ich bin im Grunde auch eine Künstlerseele und der Künstler fühlt sich immer an die Welt gefesselt. Er hat einen großen Freiheitsdrang. Ich denke dabei an das Höhlengleichnis von Plato. Wenn wir die Fessel erkennen, dann können wir sie vielleicht eines Tages abstreifen. In dieser großen Kaufmannsstadt sind sie alle an das Geld gefesselt. Es ist gut, wenn diese Stadt auch einmal etwas Geld für die Kunst locker macht. Ich lese gerade Plato. Die alten Philosophen faszinieren mich. Sie dachten an den idealen Staat. Sie dachten an die großen Tugenden. Wir haben wohl beide eine Vorliebe für die alten Griechen. Du siehst, die Kunst entsteht auch im Auge des Betrachters. Es interessiert mich wirklich, was deine Augen sehen."

Ich sagte: "Ich sehe den Baum. Der Baum spendet großen Schatten in dieser Hitze. Mit dir würde ich sogar in einer Tonne wohnen und  wir wären glücklich wie Diogenes. Ich will kein bequemes Leben, denn ich bin auch ein Einzelkämpfer. Das Plakat kommt in jedem Fall an die Wand. Erzähle mir mehr von den sieben heiligen Plätzen in dieser Stadt. Erzähle mir von deinen Bildern. Erzähle mir mehr von den Philosophen. Ich war schon immer hungrig danach. Ich liebe den alten und weisen Sokrates. Ach, hätte ich doch am Ende auch so einen großen Tod." Er nickte und sagte: "Platon war sein Schüler. Er hat die Gedanken des alten Sokrates zu Papier gebracht. Ja, Sokrates hatte einen großen Tod. Sein Denken hat ihn aus der Angst geführt. Er war fest in seinem Glauben verankert. Er blieb sich treu, als er den Schierlingsbecher trank. Sokrates war ein großer Mann. Wenn du dir so einen Tod wünschst, dann hast du dir ja auch ganz schön Gedanken gemacht."

Ich fühlte mich durch seine Worte geehrt. Mir war ganz warm ums Herz. Ich bewunderte ihn für seine Klugheit. Ich teilte jeden seiner Gedanken. Mit ihm hätte ich Pferde stehlen können. Ich wollte unbedingt noch etwas über die sieben heiligen Plätze in Erfahrung bringen. Hatte er ganz allein diese Stadt heimlich erforscht? Ich wollte alles auf einmal über ihn wissen. Er aber sprach von seinen Geheimnissen: "Du darfst mir nicht alle Geheimnisse auf einmal entlocken. Ich bin ein seltsamer Mensch. Ich brauche immer ein kleines Geheimnis. Wenn du mir mein letztes Geheimnis nimmst, dann werde ich am Ende noch langweilig für dich."

Darauf schwieg er. In diesem Schweigen lag ein Zauber, ein heiliges Gefühl. Es war mir, als wäre plötzlich ein riesiger Staudamm aufgebrochen. Ich spürte in mir einen großen Offenbarungsdrang. Ich sah die Wasser strömen. Sie strömten aus dem innersten Kern der Erde und suchten den Weg an die Oberfläche. Sie wollten den Kosmos erobern und sich tautropfengleich mit der Milchstraße vereinen. Ich sah die Straße des Regenbogens. Ich sah uns zusammen diesen Weg gehen.

Langsam meldete sich der Hunger und er lief  mit mir über die Straße. Wir kauften uns beim Bäcker ein duftendes Kümmelbrot. Mitten auf der Kreuzung stellte er mir dann diese blöde Frage. Ich hatte so gehofft, daß er sie nie stellen würde. Er fragte so ganz nebenbei: "Wie alt bist du eigentlich?" Ich schluckte und die Ampel war immer noch grün. Auf der anderen Straßenseite rückte ich mit der Antwort heraus: "Ich bin fünfzehn." Er lachte plötzlich ganz laut und sah mich ein wenig böse von der Seite an, als er sagte: "Warum machst du das? Warum willst du mir diesen Bären aufbinden? Hast du Angst, daß du zu alt für mich bist? Frauen sind komisch. Warum so eitel? Warum belügst du mich?" Ich war auf einmal erschrocken und ganz traurig. "Ich bin wirklich erst fünfzehn. Niemand glaubt mir das. In den Diskotheken fragen sie niemals nach meinem Ausweis. Ich komme in jede Spielhalle. Das habe ich ausprobiert, obwohl mich Spielhallen nicht interessieren. Es gibt sogar Leute, die glauben felsenfest, daß ich zwanzig bin. Ich bin wohl einfach frühreif. Ich kann nichts dafür. Ich kann mit den Jungen in meinem Alter nichts anfangen. Ich bin keine Herumtreiberin, denke nicht das Falsche von mir."

Aufgeregt antwortete er: "Das habe ich niemals gedacht. Darum geht es doch nicht. Natürlich fragen sie nicht nach dem Ausweis, denn du bist mindestens so alt wie ich. Ich bin achtzehn. Ich kann das abschätzen. Meine letzte Freundin war auch so klein wie du. Sie sah dir sehr ähnlich. Sie hätte deine Zwillingsschwester sein können. Sie war genau mein Typ, so wie du. Jeden Tag hat sie mir eine andere Lebensgeschichte erzählt. Sie war eine Femme fatale. Lies einmal Henry Miller, dann weißt du, daß so eine Frau einen Mann in den Ruin treiben kann. Meine Freundin war weit über zwanzig. Irgendwann bin ich dahinter gekommen. Sie hat sich auch immer jünger gemacht. Sie hat sich für ihr Alter geschämt. Warum? Ich mag reife Frauen. Sie war eine Sirene. Sie lockte mich und dann gab sie mir einen Tritt. Sie mußte immer lügen. Sie konnte nichts dafür, man hat es ihr gründlich beigebracht, aber das war mir zu gefährlich. Mit ihr wäre ich niemals glücklich geworden. Ich habe auch Gefühle. Ich bin empfindlich geworden. Ich weiß nicht, warum du mir jetzt so eine Geschichte erzählst. Ich dachte wirklich, in dir steckt eine ehrliche Haut. Ich dachte, du wärst ganz anders. Anders als alle anderen Frauen. Du bist doch sonst so klug. Ich verstehe das nicht."

Er sah ganz verzweifelt aus und lehnte sich gegen die Ampel. Seine Augen verwandelten sich in Rehaugen. Ein Reh in der Lichtung, das den Jäger erblickt und leise zittert. Es war mir, als könne ich in sein Herz blicken. Es war so kostbar. Mir wurde bewußt, daß ich fast noch ein Kind war. Meine jungen Jahre wurden zum Problem. Warum hatte mich die Liebe so früh erwischt? Warum fühlte ich mich so alt und war dennoch so unerfahren? Ich suchte nach einem Ausweg. Da fiel mir ein, daß ich meinen Ausweis in der Hosentasche bei mir trug. Das war die letzte Rettung oder das Ende. Egal. Für ihn wollte ich jedes Risiko eingehen. Wenn er mich wegschicken würde, dann hätte ich ihn jedenfalls nicht belogen. Ich hätte ihn nicht noch einmal verletzt. Also zog ich den grauen Ausweis aus der Tasche. Verdutzt hielt er ihn in den Händen und zog ihn ganz dicht vor das Gesicht, als wolle er hineinkriechen. Er starrte dieses Papier an. Seine Augen wanderten immer wieder über das Geburtsdatum. Ich sah ihn wirklich blaß werden. Er gab mir den Ausweis schweigend und einmal kräftig schluckend zurück; und dann zog er mich mit schnellen Schritten, in rasender Eile, immer noch das frische Kümmelbrot unter dem Arm, zu den friedlich wartenden Treppen vor der Kunsthalle. Das weiße Einwickelpapier wehte wie ein großer Schmetterling zurück auf die Straße und wurde von Autoreifen mitgeschleift, zerrieben und zerfetzt.

Er redete mit sich selbst. Er redete wie im Koller vor sich hin: "Mein Gott, du hast ja die Wahrheit gesagt! Mein Gott, die werden mich ja drankriegen. Die werden mich einbuchten, wenn ich nur deine Hand auf der Straße halte. Verführung Minderjähriger nennt sich das. Da werden sich ja einige Leute freuen, daß sie so einem langhaarigen Pazifisten wie mir endlich etwas anhängen können. Dann gibt es noch diesen Kuppelei-Paragraphen, wenn wir uns besuchen. Deine Eltern werden mich umbringen und meine Eltern werden in Panik ausbrechen. Mein Gott, ich muß mich setzen!"

Er saß auf den Stufen der Kunsthalle, den Kopf auf die Arme gestützt, das Kümmelbrot lag in seinem Schoß. Er saß dort regungslos wie eine Statue. Er sah aus wie der Denker von Rodin. Ein denkender, schöner Jüngling mit vielen Denkfalten auf der hohen Stirn.

Die Mittagshitze war vorüber. Es wehte ein leichter Wind. Ich fühlte mich nur noch naiv und dumm und viel zu jung. Ich hatte mir um diese Paragraphen keine Gedanken gemacht. Ich dachte, sie gingen mich nichts an. Sie kamen aus dem Hinterhalt und sie existierten. Ich sah mein Luftschloß und ich sah meinen Elfenbeinturm. Ich stand vor ihm, dachte nach  und  lotete die Landschaft meines Herzens aus. Wir waren jetzt ein lebendiges tragisches Kunstwerk: Adam und Eva nach dem Urknall! Unser Denken war in diesem Moment nur noch ein Akt der Verzweiflung. 

Nach einer Weile sagte ich: "Ich weiß, wovon du sprichst. Ich weiß, was es bedeutet, ein langhaariger Pazifist zu sein. Ich kenne das tägliche Spießrutenlaufen durch die Stadt. Die ganze Nachbarschaft redet über mich, weil ich mich mit langhaarigen Hippies, diesen Gammlern herumtreibe. In der Schule habe ich auch schon Schwierigkeiten. Ich stehe auf der Abschußliste, denn ich schreibe für eine verbotene Schülerzeitung und in meinen Aufsätzen klage ich den Rassismus und den Krieg in Vietnam an. Das  gefällt den meisten Lehrern nicht. Ich gehe auf Demonstrationen und  ich kann meine Schnauze nicht halten. Vor einiger Zeit haben sie mich am Brunnen in der Stadt verhaftet, weil ich dort mit einigen Hippies  zusammen gesessen habe. Die Polizei hat mich auf das Revier geschleppt, weil der Mönckebergbrunnen angeblich ein jugendgefährdender Ort ist. Meine Mutter sollte mich abholen, aber sie hat den Polizisten am Telefon ganz schön zusammengestaucht, und dann mußten sie mich gehen lassen. Leider ist mein Vater ganz anders.   Es kann sein, daß er dich wirklich umbringen möchte. Er duldet keinen Mann in meiner Nähe. Das ist kein Witz. Mit mir wirst du nur Ärger haben und ich will dir keine Schwierigkeiten machen. Ich habe über mein Alter gar nicht nachgedacht. Das war egoistisch von mir. Ich habe nur an mein Glück gedacht. Die Spießer werden dich fertigmachen. Wahrscheinlich wirst du auch lieber ins Gefängnis gehen, als eine Waffe in die Hand zu nehmen. Der Gedanke macht mich ganz krank. Da kannst du diesen Ärger nicht auch noch gebrauchen. Vielleicht werden wir ja  doch noch eines Tages die Kriege gewaltlos beenden. Vielleicht bauen wir noch die goldene Stadt in San Francisco. Vor dem Bahnhof verteilen sie schon Blumen. Wer weiß? Vielleicht schaffen wir es ja. Vielleicht schaffen wir es mit Bob Dylan und Jim Morrison und Jimi Hendrix. Vielleicht schaffen wir ein kleines Stück. Ich weiß nur eines ganz genau: Ich weiß, daß ich dich liebe.  Ich weiß aber auch, was das Wesen meiner Liebe ist: Ich wünsche mir nur, daß du glücklich bist."

Ich war schon im Begriff, mich umzudrehen und für immer zu gehen. Meine Worte waren ruhig und besonnen gewesen, aber jetzt standen mir die Tränen in den Augen. Ich wandte mein Gesicht ab. Meine Seele war bereit, sich in diesen leeren Abgrund zu stürzen. Ich hatte die Straße des Regenbogens gesehen. Ich wollte diesen Weg mit ihm gemeinsam gehen. Jetzt sah ich wieder die graue Sackgasse vor mir. Ich hatte sie gesehen, die Straße, die zu den Sternen führt. Allein konnte man diesen Weg nicht gehen. Allein ist man zu schwer für diesen Weg. Allein reicht der Anlauf nicht. Auf dieser Straße kann man nur schweben. Auf dieser Straße wird man nur vom Geist gelenkt. Auf dieser Straße ist nur die Liebe der Treibstoff.

Ich nahm Abschied. Ich nahm Abschied von ihm und meinen Träumen. Ich ließ alles los, ließ mich wie ein gefallener Engel in den Höllenabgrund stoßen. Vor mir lag eine unendlich lange, graue und einsame Zukunft. Ich wandte mich von ihm ab und ging zwei Schritte vorwärts, während mir vor Angst eine Gänsehaut über den ganzen Körper lief. Ich hatte ein Licht gesehen, das ich nie mehr vergessen konnte. Meine Schritte, die von ihm wegführten, empfand ich wie einen Akt des Sterbens.

Da hielt mich plötzlich eine Hand. Es war seine Hand. Sie hielt mich ganz fest und zog mich zurück zur Treppe, direkt unter die kleine, grüne Reiterstatue. Der Reiter saß ganz nackt und fröhlich mit seinem runden Helm auf seinem Traberpferdchen. Wolfgang hielt meine Hand ganz fest, als wolle er sie nie mehr loslassen. Er sah mich mit seinen braunen Augen an, fixierte meinen Blick und sagte: "Wenn du jetzt gehst, dann falle ich hier mitten auf der Straße auf meine Knie, um dich zu bitten, daß du bleibst." Er war schon in Hockstellung. "Das wirst du nicht tun. Niemals! Du wirst niemals vor mir auf die Knie fallen. Wenn du es möchtest, dann bleibe ich, aber es wird schwer für uns beide werden."

 Darauf antwortete er ganz zärtlich: "Eines Tages wirst du es ertragen müssen. Da werde ich vor dir auf die Knie fallen. Wenn Männer um die Hand einer Frau anhalten, dann müssen sie knien. Das ist eine alte Sitte. Du kannst jetzt nicht mehr gehen. Es ist zu spät. Deine Liebe ist das wahre Wesen der Liebe. Du willst, daß ich glücklich bin? Ich bin aber nur glücklich, wenn du bei mir bist. So ist das Wesen der Liebe. Jetzt wissen wir es. Weißt du, was die Sache mit uns beiden ist? Es wird eine Balkonszene geben." "Eine Balkonszene?", fragte ich. Er nickte. "Eine Balkonszene", wiederholte er mit Nachdruck in der Stimme. Das Wort klang himmlisch. Ich dachte an die Worte des Fotografen. "Meinst du die Balkonszene in dem Stück  "Romeo und Julia" von Shakespeare?

Er sah mir immer noch in die Augen, mit klarem Blick. Nach einer kleinen Pause antwortete er:  "Julia war auch gerade mal fünfzehn Jahre alt und Romeo war so alt wie ich. Es  kann sein, daß du einmal mitten in der Nacht aufwachst, weil du ein Geräusch hörst. Du wirst denken, daß dort ein Kater vor deinem Fenster herumstreunt. Deine Nachbarn werden über diesen Kater wütend sein. Du wirst ihr Gebrüll hören. Mitten in der Nacht. Das Geräusch kommt aber von mir. Ich habe mich irgendwo hinter den Büschen und Bäumen versteckt. Ich habe eine Laute mitgebracht und werde dir ein Ständchen bringen.  Du mußt dann aber auch an das Fenster kommen und dich in deinem schönsten Nachthemd zeigen. Wenn du also einen Kater mitten in der Nacht vor deinem Fenster hörst, dann verscheuche ihn nicht." Ich sagte: "Meinst du das ernst? Die meisten Leute finden Romeo und Julia doch sehr kitschig. Seine Augen leuchteten, als er sagte: "Romeo und Julia ist ein großes Drama. Wie kann es kitschig sein? Shakespeare ist unsterblich."

Nach diesen Worten kehrte Stille ein. Wir saßen vor der Kunsthalle und er teilte feierlich das Kümmelbrot in zwei Hälften. Es schmeckte köstlich.  Im Sonnenuntergang sang er für mich. Er sang alle Lieder, die ihm einfielen, in denen das Wort "Baby" vorkam. Er hatte eine schöne Stimme und er war sehr musikalisch.

Vor dem Bahnhof flatterten die Fahnen laut im Wind, als es dunkel geworden war. Nach einer Weile fragte er mich: "Wie kommt es, daß du so früh erwachsen geworden bist?" Ich war jetzt mit ihm auf dem Weg, auf der Straße des Regenbogens, und nun  konnte ich ihm alles sagen, also ließ ich meine Worte auf dem Schiffchen der Poesie fahren: "Ich bin niemals ein Kind gewesen. Nicht wirklich. Ich hatte immer nur den Wunsch, ganz schnell erwachsen zu werden. In meinem Kinderkörper lebte insgeheim auch ein alter Greis, der immer nur philosophieren wollte. Die anderen Kinder waren mir zuwider, wenn sie laut und grob waren.  Es gab nur wenige Freunde, mit denen ich mich wirklich austauschen konnte. Mit zwölf Jahren konnte ich kochen und putzen und mich selbst versorgen, während meine Eltern in ihrer Firma gearbeitet haben. Als ich dreizehn Jahre alt war, hat ein reifer Mann  schon bei meinen Eltern um meine Hand angehalten, weil er mich schön fand und sich so gut mit mir unterhalten konnte. Er konnte gar nicht glauben, daß ich noch so jung war und er war bereit zu warten, bis ich volljährig bin. Er war ein Freund meiner Eltern und ich fand ihn faszinierend, aber ich liebte ihn nicht, deshalb mußte ich ihm einen Korb geben. Meine Eltern fanden das alles nur seltsam, aber sie waren ganz froh, daß ich so selbständig war.

Es ist schon seltsam mit mir. Ich mag die Anfänge nicht. Alle Menschen lieben das Erwachen und den Morgen. Ich nicht. Ich liebe das Einschlafen und den Sonnenuntergang. Ich liebe die Abende. Alle Menschen lieben den Frühling. Ich nicht. Die Farben des aufblühenden Lebens sind mir zu grell. Ich liebe den Hochsommer und den Nebel im Herbst. Ich liebe das saftige Grün der Bäume, die Kulmination der Sonne an ihrem höchsten Punkt. Ich liebe den Gesang der Schwalben im Hochsommer in der Abenddämmerung. Die aufgehende Sonne ist nur weiß, aber der Sonnenuntergang ist prächtig. Das Morgenlicht ist ein Zwielicht. Die Menschen tauchen wie Schatten im Morgen auf und ergehen sich in emsiger Geschäftigkeit. Der Abend läßt alles zur Ruhe kommen. Ich liebe die Ruhe der Abende. Die Kindheit war für mich ein enges Kleid. Das Alter lehrt uns Gelassenheit.  Ich liebe die Anfänge nicht. Ich bin niemals ein Kind gewesen. Seltsam nicht?"

Er lächelte, während er über meine Worte nachsann. Es war ein wissendes Lächeln. Er nahm meinen Kopf in seine Hände und küßte meine Augen, die ich nur für ihn geschlossen hielt, weil seine Schönheit mich geblendet hatte. Er nahm mich in seine Arme und ich spürte seinen Atem. In der hereinbrechenden Dunkelheit spürte ich noch die Wärme der Sonne in seinem Körper. Nach einer Weile sagte er verträumt: "Bist du nicht nach einer griechischen Göttin benannt? Du trägst den Namen einer geheimnisvollen Blume!" Ich antwortete: "Du bist ein Romantiker, ein echter Dichter!" Da sagte er zu mir: "Es gibt Dichter, die niemals ein Wort geschrieben haben. Ein Dichter, dieses Wort bezeichnet auch das besondere Wesen eines Menschen. Ich bin ein Dichter, der niemals ein Buch schreiben wird. Du wirst es tun. Erzähle mir von der Göttin Iris."

Ich war tief berührt. In diesem Moment war der Dichter in mir geboren, weil er in einen reinen Spiegel geblickt hatte. Ich sagte: "Iris war keine Göttin, sie war eine Götterbotin, eine Halbgöttin. Sie war dem Merkur sehr ähnlich. Du kennst ihn, er fuhr Rollschuh und hatte kleine Flügel am Helm. Er war auch der Schutzpatron der Diebe und Räuber. Iris war nicht boshaft und nicht hinterhältig, dafür aber vergeßlich. Sie vergaß immer einige Botschaften und das hat zur Verwirrung zwischen Himmel und Erde beigetragen.  Wenn du einen Regenbogen siehst, das ist ihr Schleier, den sie wieder einmal vergessen hat."

Er lachte und sagte: "Weißt du, warum Dagobert Duck so reich ist? Er findet immer einen Topf voller Gold am Ende des Regenbogens. Deshalb macht ihn das Geld auch so glücklich. Er kann es genießen, er badet darin. Weißt du eigentlich, daß auch ein Stern nach dir benannt ist? Er ist sehr weit fort. Ohne Teleskop kann ich ihn dir nicht zeigen. Ich habe eine Himmelskarte unter meinem Bett. Irgendwann werde ich dir diesen Stern zeigen, wenn du mich einmal besuchst. Du selbst bist wohl auch von einem anderen Stern. Eine Göttin eben. Ich möchte so gern  mit dir auf deinen Heimatplaneten reisen. Versprichst du mir, daß du mich irgendwann dorthin bringst? Die Erde gefällt mir nicht so sehr." "Warum bringst du mich nicht auf deinen Planeten, denn du bist doch der kleine Prinz!"  Er schüttelte den Kopf: "Nein, ich gehe mit dir."

Der Himmel war beinahe schwarz geworden und die Fahnen flatterten nicht mehr im Wind. Die Sterne glitzerten über der Kuppel des Bahnhofs. Es war Zeit für den Abschied. Bald würde der letzte Zug in die Hallen des Bahnhofs fahren und ihn mitnehmen. Ich spürte, daß auch er diesen Bahnhof verwünschte, diesen Zug, der unsere Wege trennen sollte.

 "Du bist noch eine Jungfrau, nicht wahr?", fragte er zaghaft. Ich nickte. "Weißt du, wann der Zeitpunkt kommt, an dem du eine Frau werden willst?" Ich konnte ihm darauf keine Antwort geben. "Du mußt immer auf deine innere Stimme hören", sagte er. Deine innere Stimme sagt dir alles. Sie sagt dir, wann für dich der richtige Zeitpunkt gekommen ist.  Irgendwann wirst du dich in einen Schmetterling verwandeln und dann wirst du eine Frau sein. Niemand kennt den Zeitpunkt. Nur du allein. Es ist eine große Zeit. Es ist dein großer Schatz. Ich werde auf diesen Zeitpunkt warten. Ich habe unendlich viel Geduld. Ich warte auf dieses Geschenk, dieses große Geheimnis, das du mir offenbarst, wenn deine Stimme mich ruft."

Niemand hatte jemals so zu mir gesprochen. Ich sagte: "Ich wollte mich immer für die große Liebe bewahren. Jetzt habe ich sie gefunden. Ich werde mich für dich öffnen, wenn die Stimme in mir ruft. Ich werde nach innen hören. Ich werde lauschen."

Als ich in dieser Nacht nach Hause kam, fand ich meine Mutter lesend auf dem Sofa. Sie blickte auf die Uhr und dann sah sie mich ein wenig strafend an. Ich sagte euphorisch: "Verzeih, daß ich so spät komme, aber ich habe den Mann meines Lebens gefunden. Ich will mein Leben mit ihm verbringen. Ich will ihn sogar heiraten." Meine Mutter sah mich mit einem Blick an, als ob sie sagen wollte: "Du spinnst ja." Sie lachte nur ein wenig skeptisch und murmelte: "Mein Gott, Kind, das sagt man doch nicht in deinem Alter. Du kennst ihn ja gerade mal ein paar Tage. Du kannst den jungen Mann ja einmal mitbringen, damit ich ihn einmal kennenlernen kann. Aber erzähle das bloß nicht deinem Vater." 

Da war es wieder, mein Alter, die wenigen Jahre. Niemand kannte mich besser als meine Mutter. Aber jetzt wußte ich, daß niemand mich wirklich kannte. Nur er kannte mich wirklich. Nur  er kannte diesen Stern, der nach mir benannt war. Niemand hatte die Straße des Regenbogens gesehen. Niemand konnte wissen, wie heilig und wie ernst mir diese Liebe war.

Der Krieg begann. Die Familien rüsteten sich zum Kampf. Die Verbündeten suchten ein Versteck. Der Tod stand schon hinter dem Vorhang und wartete auf seinen großen Auftritt. Eros, der Gott der Liebe, kam ihm entgegen, auf der Straße des Regenbogens, Schritt für Schritt.